ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Georg Schuppener (Hrsg.), Jüdische Intellektuelle in der DDR. Politische Strukturen und Biografien (= hochschule ost, 8. Jahrgang), Universität Leipzig, Leipzig 1999, 382 S., brosch., 35 DM.

Es gab in der DDR eine nicht allzu große weit gefächerte Schicht "Angehörige der Intelligenz" (Personen mit Hoch- und Fachschulabschluss) - die interessiert hier nicht -, daneben (wirklich "daneben") einige Intellektuelle und einige Juden. Und eine Schnittmenge, die unnatürlich klein war: die "jüdischen Intellektuellen". Genau dieser seltenen Gruppe versucht sich die für das Hochschulwesen in den ostdeutschen Ländern sehr verdienstvolle hochschule ost in nicht ganz zehn Aufsätzen zu nähern. Um es gleich zu sagen: Nur sehr wenige dieser Beiträge entsprechen dieser Absicht und gäbe es nicht die Einführung von Peer Pasternak und dem Herausgeber, so müsste man vermuten, dass die Beliebigkeit in den einzelnen Themenstellungen dem Unvermögen entspringt, überhaupt die Gruppe "jüdische Intellektuelle" analytisch festzustellen.

Wo liegt das Problem? Das zeigt sich prima vista an dem Interview mit Thomas Kuczynski. Auf die Eingangsfrage "Gab es jüdische Gelehrte in der DDR?" antwortet er: "Sicherlich. Ich würde denken, Rudolf Schottländer war selbstverständlich ein jüdischer Gelehrter in der DDR. Victor Klemperer wohl auch. Arnold Zweig." Da haben wir bereits die analytische Unschärfe: Geht es um Intellektuelle oder um Gelehrte? Die Verwechslung der Begriffe wäre peinlich. Und Rudolf Schottländer – war er ein jüdischer Gelehrter? Gelehrter zweifellos, aber "jüdisch" doch vor allem im Sinne der Nürnberger Gesetze von 1935. Mit Beginn seiner Volljährigkeit trat Schottländer 1921 aus der jüdischen Gemeinde aus, wurde in der NS-Zeit als Jude diskriminiert, überlebte jenen Staat und war bis zu seinem Tode 1988 dem Judentum gegenüber distanziert. Kuczynski fragt sich natürlich , "woran man jüdisch sein misst" und gibt die sehr plausible Antwort, es "muss eine stärkere Affinität zu dem vorhanden sein, was landläufig Judentum genannt wird. Menschen, die im Sinne der Nürnberger Gesetze durch die Nazis zu Juden gemacht worden waren, müssen nach meinem Dafürhalten nicht unbedingt jüdische Gelehrte gewesen sein." Natürlich wurden sie nicht "zu Juden gemacht", aber sie mussten – auch wenn sie assimiliert waren – Juden bleiben.

Der einleitende Aufsatz von Pasternak und Schuppener "Jüdisch & intellektuell" fragt zuerst, wo das Image des Heiklen herrührt, das sowohl dem Thema "Juden in der DDR" wie dem Thema "Die DDR und ihre Intellektuellen" anhaftet. Die zweite Antwort ergibt sich aus einer Definition des Intellektuellen über die drei Merkmale Bildung – Kritik – Einmischung. Hierbei beziehen sich die Autoren gezielt auf Mannheim, Dahrendorf, Lepsius und J. Améry, aus deren Funktion, Zustände zu befragen, ohne dazu aufgefordert zu sein und aus der Feststellung: "In der DDR nun war für eine eigenständige öffentliche und kritische Funktion von Intellektuellen - bereits in der Theorie – kein Platz." (S. 9). Die erste Antwort ist mühsamer, denn die SED war zwar intellektuellen-, aber nicht - wenigstens nicht nach Stalins Tod - judenfeindlich. Aber sie hatte auch – so die Autoren – als Folge der NS-Vergangenheit wie ihrer Wurzeln als sowjetischer Satellit gleich zwei antisemitische Wurzeln, die die Integration der Juden schwierig gestaltete und sie sehr fragil machte. An überzeugenden Defiziten werden dazu genannt: Die Hierarchisierung der NS-Opfer, bei der die Juden in der unteren Hälfte rangierten; die Unfähigkeit, den Holocaust zu begreifen; die Staatsdoktrin des Antizionismus, der die Bevölkerung nicht gegen den Antisemitismus immunisierte.

Diese Schwierigkeiten der SED mit den Intellektuellen und mit den Juden mussten sich logischerweise potenzieren, "sobald es sich um jüdische Intellektuelle handelte" (S. 11). Diese "mit den Jahren der DDR immer kleiner werdende Schar jüdischer Bürger" wird eher differenziert als homogen definiert und verständlicherweise müssen die Autoren einräumen, dass es nur wenige Intellektuelle in der DDR gab, die sich jüdisch verstanden haben. Ohne diesen knappen einleitenden Beitrag wäre der Schwerpunkt des vorliegenden Bandes kaum adäquat behandelt worden. Schon bei Mario Kessler ("Sozialisten jüdischer Herkunft zwischen Ost und West. Ernst Bloch, Hans Mayer, Alfred Kantorowicz, Leo Kofler, Josef Winternitz") wird das Problem deutlicher. Was ist an ihren Konflikten mit der SED-Führung jüdisch-intellektuell, was einfach intellektuell begründet? Er und kein Autor macht die Probe, worin sich deren Konflikte von den Konflikten nicht-jüdischer Intellektueller unterscheiden sollen. Wenn ich einmal eine Liste von typischen DDR-Intellektuellen aufstellen sollte, dann würde ich nennen: Bahro, Biermann, Bloch, Brecht, Eisler, Harich, Havemann, Hein, Heym, Kuczynski, Heiner Müller, Schottländer und Christa Wolf. Und es ist meines Erachtens biografisch müßig, nun herauszustellen, wer von ihnen "jüdischer Herkunft" sei und wer nicht. Kessler sieht noch das Problem, wenn er zu seinen fünf Ausgesuchten schreibt: "Die jüdische Herkunft war bei allen nicht allein prägend, aber sie sensibilisierte die Sozialisten, machte sie aufmerksam auf Gefährdungen selbst in Zeiten scheinbar gesicherter Existenz, hinter der oft genug der Zwang zur Anpassung stand" (S. 22).

Der Aufsatz von Esther Jonas-Märtin und Lothar Mertens "Intellektuelle in den Jüdischen Gemeinden in der Frühphase der DDR" bringt Zahlen zu überlebenden und remigrierten und zugewanderten und zu später geflüchteten Juden, auch Informationen zu den Jüdischen Gemeinden, doch das Thema Intellektuelle bleibt bis fast zum Schluss ausgespart; passend ist allein der Halbsatz "waren jüdische Intellektuelle allenfalls als politische Vorzeigeobjekte erwünscht" (S. 59). Die herangezogenen "Personen jüdischer Herkunft" wie Albert Norden, Alexander Abusch, Friedrich Karl Kaul und Hermann Axen lassen sich schwerlich als Intellektuelle bezeichnen.

Eine stark abweichende Fragestellung behandelt Andreas Herzog "War die DDR antisemitisch?" Diese leicht zu verneinende Frage setzt sich mit solchen öfter aufgestellten Behauptungen aus der historiographischen Literatur der letzten Jahre auseinander. Wo er vielleicht etwas zu den jüdischen kommunistischen Intellektuellen hätte sagen können, tut er es nicht: "Die in der DDR lebenden Kommunisten, die sich auch als Juden verstanden, sahen sich mit einem Widerspruch konfrontiert: Einerseits waren sie Bürger eines Staates, der die ‘Judenfrage‘ auf sozialistische Weise gelöst hatte. Andererseits waren sie über ihre ethnische Herkunft mit der Schicksalsgemeinschaft des jüdischen Volkes und seiner neu geschaffenen Heimstätte verbunden. Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, wie ’jüdische Marxisten’ diesen Widerspruch zu lösen versucht haben" (S. 67f.). Schade. Mein Kommentar: Ich habe in der DDR keinen Marxisten gesehen, der sich als Jude verstand. Das war auch nach 1953 keine Frage des öffentlichen oder privaten Interesses. Kurz vor oder nach 1990 wurde mit gewissem Stolz nun nicht mehr die proletarische, sondern die jüdische Großmutter erwähnt.

Andere Beiträge entfernen sich noch weiter von der Thematik. Wenn etwa Wolfgang Herzberg eine "linke jüdisch-deutsche Hochschullehrerin" ihr Leben erzählen lässt, so erfährt man etwas von den Hoffnungen, die sie in der Emigration durch den Weg zum Marxismus und Sozialismus gewann, und den Enttäuschungen nach der Rückkehr in die DDR/SBZ als Lehrerin und Angehörige der Humboldt-Universität, weil sich kommunistische Theorie und krude Praxis nicht vertrugen. Das ist für mich eine ganz typische DDR-Biografie einer enttäuschten Kommunistin. Was bei dieser Frau die spezielle jüdische Problematik sein soll, bleibt unerfindlich. Doch der Autor zieht ein Fazit, das in keinem Zusammenhang mit der vorangegangenen Biografie steht. Danach waren zurückgekehrte deutsch-jüdische Intellektuelle "identitätsstiftend für die politische Gründergeneration der DDR, einschließlich ihrer Gründungsmythen" (S. 158), gehörten sie "zum ‘Urgestein‘ der politischen Kultur der DDR und waren – gewollt oder ungewollt – Hoffnungsträger und Leitbilder für die ‘Aktivisten der ersten Stunde‘" (S. 158f.), sie hätten "Reformen in den realsozialistischen Ländern gegen die Parteibürokratie und -ideologie anzustoßen" versucht (161) und seien (wird wiederholt) "Leitbild- und Hoffnungsträger einer – von vielen erhofften – Reformpolitik innerhalb und außerhalb der SED" gewesen. Wenn nicht nur die jüdische Herkunft, sondern eine damit verbundene Motivation dieser Remigranten gemeint ist, dann müsste die DDR-Geschichte allerdings ein weiteres Mal neu konzipiert werden.

Der Beitrag von Günter Wirth ("Ernst Grumach") ist ebenfalls eher eine DDR-normale Biografie, diesmal eines parteilosen Wissenschaftlers (leider übertreibend: eines Universalgelehrten), der an der Universität und der Akademie der Wissenschaften erfolgreich arbeiten konnte, "auch einen ‘Einzelvertrag‘ und mehrfach größere Prämien" erhielt und zweimal (allerdings erfolglos) zum Nationalpreis vorgeschlagen wurde. Konflikte wegen einer jüdischen Identität werden in dieser Darstellung nicht erkennbar. Zum guten Ende: Es gab doch einen ausgeprägten jüdischen Intellektuellen, den Dieter Schiller vorstellt: "Der unbequeme Ja-Sager. Arnold Zweigs Jahre in der DDR". Bei Zweig finden wir alles: Er glaubte Marxist zu sein, war Sozialist, Zionist, wollte als Jude wahrgenommen werden, hatte in der DDR Narrenfreiheit, bekam wichtige Funktionen und Ämter übertragen – war u.a. Präsident der Akademie der Künste und Mitglied der Volkskammer -, konnte seine Bücher in der DDR reichlich veröffentlichen – nur zu jüdischen Themen (und zur Psychoanalyse) durfte er nicht publizieren. Gewagt und schön Schillers Urteil: "Er handelte nach Überzeugungen, ob er schrieb, redete oder schwieg." (S. 134)

Unbedingt muss auch die fragmentarische Bibliografie von Georg Schuppener erwähnt werden (S. 164-171) und sei es, um festzustellen, welche Arbeiten zum Thema "Juden in der DDR" vor dem Ende dieses Staates in West und auch Ost publiziert wurden.

Mein Fazit: Man musste in der DDR (nach 1953) als Intellektueller nicht unbedingt Jude sein, um Schwierigkeiten mit der SED-Führung zu bekommen. Aus dem ganzen Buch gehen eigentlich nur zwei Personen hervor, die mit Recht als "jüdische Intellektuelle" bezeichnet werden können: Der Dresdner Historiker Helmut Eschwege und der eben genannte Arnold Zweig. Es gibt viele Wiederholungen in den Aufsätzen, die Konjunktion "jüdisch und intellektuell" wird zu wenig ernst genommen. Gratulieren zu diesem Band kann man trotz des wichtigen Themas dem Herausgeber nicht.

Guntolf Herzberg, Berlin





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