ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerhard Wettig, Bereitschaft zu Einheit in Freiheit? Die sowjetische Deutschland-Politik 1945-1955, Olzog-Verlag, München 1999, 332 S., kart., 24,80 DM.

Die Stalin-Note – eine "verpasste Chance"? War die von Josef Stalin in seiner Notenoffensive des Jahres 1952 angebotene Wiedervereinigung Deutschlands tatsächlich eine von der Bundesregierung und den westlichen Alliierten versäumte Gelegenheit? Oder handelte es sich dabei vielmehr um ein Täuschungsmanöver Moskaus mit dem Ziel die fortschreitende Integration der Bundesrepublik in das westliche Europa zu hemmen? Hat Stalin sein Angebot, ein wiedervereinigtes Deutschland könne bewaffnete Souveränität erlangen, insofern es sich zu isolierter Neutralität verpflichte, wahrhaftig ernst gemeint? Bis heute streiten die Gelehrten, ob eine friedliche und freiheitliche Wiedervereinigung Deutschlands bereits im Jahre 1952 zum Greifen nah war, ob es in Moskau ehrliche "Bereitschaft zu Einheit in Freiheit" gab.

Bis zum Jahre 1991, dem Ende des Kalten Krieges, ließ sich die sowjetische Außenpolitik in aller Regel nur auf Grund von Eindrücken von außen oder auf der Basis von Dokumenten rekonstruieren, die von sowjetischer Selbstdarstellung durchdrungen und daher nur mit Vorsicht zu genießen waren. Doch nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums öffneten sich die politischen Archive Moskaus und Ost-Berlins und gewährten Zugang zu unüberschaubaren Aktenbeständen. Neues Material also, das die seit fast einem halben Jahrhundert geführte Diskussion über die Absichten Stalins erneut aufwallen ließ und Gerhard Wettig, der sich durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen einen Ruf als exzellenten Kenner insbesondere der sowjetischen Deutschlandpolitik erworben hat, erneut zu einer Untersuchung motivierte, deren Ergebnis nunmehr vorliegt.

Auf der Grundlage der in jenen Archiven ausfindig gemachten Dokumente und Informationen behandelt Wettig zunächst die "Voraussetzungen und Grundlagen der sowjetischen Deutschland-Politik", geht dann zur "Phase der Ost-West-Kooperation 1945-1947" über, erörtert anschließend den "Ausbruch und die Entfaltung des Kalten Krieges 1947-1949" und thematisiert schließlich den "Kampf um Deutschland in der ausgehenden Stalin-Zeit (1950-1952)". Mit dem "Übergang zur Zwei-Staaten-Politik in Deutschland und Änderungen des Besatzungsregimes in der DDR" und den "Grundfragen der sowjetischen Deutschland-Politik 1945-1955" beschließt Wettig seine Untersuchungen.

So nähert sich der Autor auf einem langen aber informativen Umweg über die Darstellung z.B. des "Aufbaus und der Struktur der sowjetischen Besatzungsbehörden" oder der "Steuerung der Entwicklungen im Parteiwesen der SBZ" der eigentlichen Fragestellung nach der Bereitschaft zu Einheit in Freiheit an: Handelte es sich bei Stalins Offerte vielmehr um einen Schachzug im Rahmen einer breit angelegten Strategie, welche die Westmächte aus Deutschland herausdrängen und das schutzlose, weil neutralisierte Land dem von Moskau kontrollierten Staatengürtel einverleiben sollte – oder nicht? Wettig kommt – wie schon in seinen vorangegangenen Abhandlungen – zu dem Ergebnis, dass Stalin die deutsche Wiedervereinigung nicht gewollt hat und sein Angebot somit als "Schein-Offerte" gewertet werden muss: Ja, Stalin habe die "Noten-Offensive" zunächst gar nicht eröffnen wollen, da er die Möglichkeit der Zustimmung der Westmächte für ein unvertretbares Risiko gehalten habe. Erst auf die Versicherung seiner Berater hin, dass eine westliche Zustimmung völlig ausgeschlossen sei, habe er sein Einverständnis gegeben. Die erhoffte Ablehnung habe ihn anschließend in die vorteilhafte Situation gebracht die Schuld an der Spaltung Deutschlands dem Westen zuschieben und den forcierten Aufbau des Sozialismus – auch in militärischer Hinsicht – de jure beginnen und de facto weiterführen zu können.

"Bereitschaft zu Einheit in Freiheit" wartet folglich weniger mit fundamental neuen Erkenntnissen, dafür jedoch mit zahlreichen Belegen und interessanten Anmerkungen auf, die dieses Buch zu einer aufschlussreichen Lektüre werden lassen. Ob Stalins Angebote also nun wahrhaftig als "verpasste Chance" anzusehen sind, sei dahingestellt. Wettig jedoch bietet mit seinem Werk eine Chance, die auf keinen Fall verpasst werden sollte.

Stefan Finger, Bonn





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