ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Benz, Marion Neiss (Hrsg.), Judenmord in Litauen. Studien und Dokumente (= Reihe: Dokumente – Texte – Materialien, veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Bd. 33), Metropol Verlag, Berlin 1999, 183 S., kart., 36 DM.

Der Band verdankt sein Entstehen einer vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung abgehaltenen Konferenz. Die Veranstalter widmeten sich damals vor allem der Frage des Antisemitismus in Litauen und stellten diese Thematik auch in den Vordergrund des Bandes, der sich nun mit der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in dem seit 1941 von den Deutschen besetzten Gebiet beschäftigt. Leider konnte eine Vollständigkeit der Tagungsbeiträge nicht erreicht werden, dennoch bietet der Band einen Einstieg in die Geschichte Litauens unter deutscher Besatzung, deren Gesamtbearbeitung noch aussteht.

Die Themenwahl ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen beschäftigt sie sich mit der in Teilen immer noch unerforschten deutschen Besatzungsherrschaft in den östlichen Gebieten, zum anderen widmet sie sich einem lange der Forschung vorenthaltenem Gebiet: dem Antisemitismus der Bevölkerung in den besetzten Gebieten und deren bereitwilliger Kooperation bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ihres eigenen Landes. Gerade dieses Thema war während der sowjetischen Herrschaft tabuisiert und Ressentiments gegen die verbliebene kleine jüdische Restgemeinde blieben ungesühnt und unhinterfragt bestehen.

Die Beiträge verwenden durchweg Archivalien aus litauischen Beständen. Jürgen Matthäus vom US Holocaust Memorial Museum / Research Center in Washington untersucht die antisemitischen Tendenzen der deutschen Besatzer während der Zeit des Ersten Weltkrieges.
Michael MacQueen vom US Department of Justice beschreibt die wechselvolle Geschichte Litauens im Konfliktfeld zwischen polnischer, deutscher und sowjetischer Herrschaft in der Zwischenkriegszeit. Besonders die Annexion Wilnas durch die Polen 1920-22 erhitzte die nationalistische Debatte. Die beginnende Ausgrenzung der jüdischen litauischen Bevölkerung ergab sich durch Sprachbarrieren und durch die von den Nationalisten differierenden Staatsvorstellungen. Als die Sowjets 1939 die Macht in Litauen übernahmen, äußerten große Teile der Bevölkerung gleichermaßen Ressentiments gegenüber den Russen wie gegenüber den Juden.

Ein zunehmend aggressiver Antisemitismus schien, so MacQueen, "dazu gedient zu haben, von den Schuldgefühlen abzulenken, die aus der Kollaboration vieler Litauer mit den Sowjets resultierten". Die Kollaboration litauischer Nationalisten mit den Deutschen in Fragen der Judenvernichtung war dann nur noch ein Schritt. Die Deutschen erkannten rasch das Potenzial an Hilfestellung, das ihnen durch litauische Spezialeinheiten zur Verfügung stand, und bedienten sich der weitgehend selbstständig operierenden Einheiten bei ihren Vernichtungsfeldzügen gegen die jüdische Bevölkerung. Knut Stang (Göttingen) konzentriert sich auf diesen Beginn der litauisch – deutschen Kollaboration. Er schildert die Massenerschießungen und analysiert die Beweggründe der beteiligten litauischen Einheiten, die er weitgehend in der "patriarchalischen Organisation der litauischen Gesellschaft" sieht, in der absoluter Gehorsam tradiert und nicht hinterfragt wird. Das Ausscheiden Einzelner aus dergleichen Spezialeinheiten hatte diverse Gründe, jedoch keine menschenrechtlich begründeten. Ruth Kibelka (Universität Klaipeda/Memel) und Jürgen Matthäus widmen sich in zwei Beiträgen den konkreten Maßnahmen der Massenvernichtung, die in Litauen, so scheint es, mit völlig ungebrochener Grausamkeit vonstatten ging. 200.000 von den vormals 250.000 Juden des Landes überlebten den Zweiten Weltkrieg nicht.

Vier sehr anschauliche Quellen - die Aussage eines Täters und drei unterschiedliche Perspektiven der Opfer - verdichten nochmals den Eindruck, den die wissenschaftlichen Beiträge hervorgerufen haben. Eine Zeittafel ist bei der wechselvollen und sicherlich auch nicht jedem Leser präsenten Geschichte des Landes hilfreich.

Der Band trägt zur Erklärung des Phänomens "Antisemitismus" Wichtiges bei; ihm ist große Verbreitung in Studium und Unterricht zu wünschen.

Merith Niehuss, München





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