ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Grit Philipp, Kalendarium der Ereignisse im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück 1939-1945, unter Mitarbeit von Monika Schnell, mit einem Geleitwort von Bundesministerin Dr. Christine Bergmann, Metropol Verlag, Berlin 1999, 350 S., geb., 40 DM.

Die Geschichte des Frauen-KZ Ravensbrück ist eine Geschichte der verschiedenen Erinnerungen und gerade in den beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1989 eine Geschichte auch verschiedener Erinnerungskulturen. Sie teilen sich jeweils in Gedächtnis – Erinnern – Gedenken. Gedächtnis ist das Speichermedium für den Inhalt der Erinnerung. Erinnern ist ein aktiver Akt der Vergegenwärtigung des Gespeicherten. Gedenken ist die formalisierte und ritualisierte Form der Erinnerung, die in der DDR und in der Bundesrepublik jeweils sehr unterschiedlich waren, ja zugespitzt könnte formuliert werden, dass mit wenigen Ausnahmen lediglich in der DDR der Ravensbrücker Opfer konkret gedacht wurde.

Korrektur eines eher willkürliches Gedenkens ist der stukturierende historische Blick , d.h. die Kenntnis des tatsächlichen Geschehens und der Erinnerung daran im Zeitablauf. So ist es zu begrüßen, dass Forschungen zum KZ Ravensbrück nach der Wende in den 1990er-Jahren auffällig zugenommen und neue Erkenntnisse zu Tage gefördert haben, die erst durch den Zugang zu neuen Quellen, die Offenheit für neue Fragestellungen und die Erweiterung des Blicks auf die Häftlingsgesellschaft, der in der DDR zu lange auf die Kommunisten konzentriert war, möglich wurden.

Zu dieser Vergewisserung der historischen Realität kann eine genaue Chronologie der Ereignisse in Ravensbrück beitragen um von ihr ausgehend weitere Forschungen voranzutreiben. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee zur Erstellung eines Kalendariums, die gleichwohl natürlich nicht neu war, lag doch seit 1989 das unter Federführung von Danuta Czech in jahrzehntelanger Kleinarbeit zusammengestellte Kalendarium des KZ Auschwitz auch in deutscher Sprache vor.

Grit Philipp hat das Projekt für Ravensbrück gewagt. Geboren 1968, gehört sie inzwischen zur dritten Generation, die sich mit der Geschichte der NS-Diktatur auseinander zu setzen hatte und diese dann auch zu ihrem Schwerpunkt machte. Nach einer Examensarbeit über Erika Buchmanns Überleben in Ravensbrück 1942-1945 arbeitete sie von 1994 bis 1998 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Hier war sie unter Mitarbeit von Monika Schnell mit der aufwändigen Recherche und Erstellung eines Kalendariums der Ereignisse in Ravensbrück betraut. Dass ein solches Vorhaben von einer Historikerin in einem derart kurzen Zeitraum bewältigt werden sollte, war zweifellos eine Gratwanderung. Bedauerlich ist, dass es zeitlich unmöglich war, den gesamten Lagerkomplex Ravensbrück mit seinen Nebenlagern, dem Männerlager und dem Jugendschutzhaftlager Uckermark entsprechend zu verfolgen. Diese Themen sollten in einer Fortsetzung, und zwar in Verzahnung mit den Ereignissen im Hauptlager Ravensbrück, unbedingt erarbeitet werden.

Ein Kalendarium hat den Anspruch an besondere Geschehnisse und Personen zu erinnern ohne jedoch bereits auf Vollständigkeit bedacht zu sein. Ein Kalendarium ist eigentlich nie abgeschlossen, es dokumentiert den aktuellen Stand des Wissens und wird von jeweils neuen historischen Forschungen korrigiert. Anhand der Erinnerungsberichte, Aufzeichnungen unterschiedlicher Provenienzen, Zeugenaussagen, juristischen Ermittlungsergebnisse, versprengt vorhandener SS-Überlieferungen und neuerer Forschungsergebnissen kam eine detaillierte Chronologie des Frauen-KZ Ravensbrück zu Stande, die bewusst jeweils die Menschen in ihren Mittelpunkt stellt. Sie zeigt weniger die Monotonie und Sinnlosigkeit, die alltägliche Not und Erniedrigung, sondern setzt Reste von biografischer Kontinuität zusammen, zeigt mit welchen Ritualen die Frauen gegen den KZ-Alltag angingen, sofern sie dazu körperliche und geistige Kräfte hatten und würdigt diejenigen, die ihr Leben in diesem System verloren.

Jedem Jahr ist ein kurzer, einführender Text vorangestellt, der auf die allgemeinen Entwicklung der Geschichte des NS verweist um die Ereignisse in Ravensbrück in deren Verlauf einzuordnen. Tag für Tag folgen Informationen über Transporte, Krankheiten, Strafen, personelle Veränderungen in der Häftlingsverwaltung und in der Kommandantur, Ereignisse im Lageralltag etc. Erstmals werden im Anhang die Fotos aus dem Ravensbrücker SS-Album des Jahres 1940/41 abgebildet: Die vermutlich für Propagandazwecke aufgenommenen Bilder zeigen natürlich nichts vom mörderischen Alltag der Häftlingsfrauen. Hier hätte sich die Verfasserin als Gegensatz auch z. B. Fotos gewünscht, die von der sowjetischen Armee nach der Befreiung im Mai 1945 auf dem Gelände zur Dokumentation der Verbrechen gemacht worden sind (siehe hierzu im Vergleich: Befreiung Sachsenhausen, hrsg. von Günter Morsch und Alfred Reckendrees, Berlin 1995). Mit den im Anhang veröffentlichten Zugangslisten steht interessierten Leserinnen und Lesern ein Überblick zur Verfügung, von dem sich die Rezensentin wünschte, dass er durch entsprechende Abgangslisten hätte ergänzt werden können.

Mit dem Kalendarium hat Grit Philipp einen zentralen Beitrag zu einer Zwischenbilanz der Ravensbrück-Forschung geleistet. Dass sie sich nach so kurzer Bearbeitungszeit mit dieser Publikation der kritischen Öffentlichkeit stellte, hängt zwar auch mit dem Arbeitsmarkt für historische Forschungen zusammen, fordert natürlich auch die Kritik heraus. Aber in einem Ausmaß – wie in Nr. 53 der Informationen des Studienkreises Deutscher Widerstand vom Mai 2001 – scheint dies der Rezensentin nicht gerechtfertigt: Fehler im Detail und beim Abgleich von Überstellungslisten ließen sich nur vermeiden, wenn weitere Forscher das Projekt mit ihrem Wissen unterstützt hätten, was jedoch angesichts der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt leider viel zu selten der Fall ist. Die interessierten Historiker dürfen nunmehr auf die lang erwartete Dissertation von Bernhard Strebel gespannt sein, dessen langjährige Forschungen zu Ravensbrück hoffentlich neue Perspektiven öffnen und vielleicht auch Details zu Tage fördern, die bisher nicht bekannt waren.

Christl Wickert, Berlin/Hamburg





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