ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael von Cranach und Hans-Ludwig Siemen (Hrsg.), Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Bayerischen Heil- und Pflegeanstalten zwischen 1933 und 1945, R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 508 S., geb., 98 DM.

Trotz mehrerer Prozesse gegen Psychiater und Personal von deutschen Heil- und Pflegeanstalten blieb das Vorgehen gegen interne und externe Patienten bzw. der Umgang mit ihnen bis zum Beginn der Psychiatriereform Anfang der Achtzigerjahre in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit in einer Tabuzone, selbst wenn in akademischen Lehrveranstaltungen und sogar im Schulunterricht über die Herrschaft des Nationalsozialismus die "NS-Euthanasie" zwischen 1939 und 1941 angesprochen wurde. Mitscherlich war fast vergessen; die DDR-Publikation von Kaul stieß in Westdeutschland auf Vorbehalte und die wichtige Arbeit von Nowak über das Verhältnis der Kirchen zu Sterilisation und "Euthanasie" fand nur verspätet die verdiente Anerkennung. Die quellengesättigten Publikationen von Aly und Roth sowie von Klee haben dann zu einer Sensibilisierung für die Problematik der Psychiatrie wie der Geschichte der Heilanstalten in Deutschland von den Jahren der Weimarer Republik bis in die unmittelbare Nachkriegszeit geführt. Dass sich Dörner generell mit der von Kollegen aus der NS-Zeit zu verantwortenden Tätigkeit auseinander setzte, war der erste wichtige Schritt zur Selbstdistanzierung der modernen deutschen Psychiatrie von den geplanten medizinischen Morden und Verletzungen der vorhergehenden Generation und ihren Schreibtischtätern.

Paradigmatisch für manche andere hat Chroust das Leben des Euthanasiearztes Friedrich Mennecke dokumentiert. Seither ist eine Vielzahl gründlicher Untersuchungen erschienen (richtungweisend Schmuhl), die zugleich mit der Behandlung der staatlichen Gesetzgebung und Aktionen sowie mit den Handlungen in den Anstalten die nationalsozialistische Psychiatrie aufgearbeitet hat; in Bayern gilt dies beispielsweise für die Anstalten Kaufbeuren und Eglfing-Har. Damit ist die Frage zu stellen, ob die Geschichte der einzelnen bayerischen Anstalten in der NS-Zeit tatsächlich in einer Sammlung von Einzelaufsätzen abgehandelt werden musste. Die Antwort lautet nach der Lektüre der vorliegenden Publikation uneingeschränkt: "Ja".

Mit Cranach und Siemen hat der bayerische Bezirksverband zwei sachkundige Herausgeber gefunden, die nicht nur unter ihren Kollegen in den bayerischen Anstalten Mitarbeiter angeworben und deren Beiträge redigiert, sondern selbst mitgeschrieben haben. Durchweg sind die Autoren, die einzeln oder als Team gearbeitet haben, in den von ihnen untersuchten Heil- und Pflegeanstalten angestellt gewesen oder beschäftigt. Anstalt für Anstalt werden die jeweilige "Früh- und Vorgeschichte" von Ansbach bis Werneck, ihre Einbindung in das "Gesundheitswesen" der nationalsozialistischen Ära sowie die lokalen Verbrechen von den Sterilisationen über das heimliche Verlegen in Zwischen- und Mordanstalten bis zu der anstalteninternen "wilden Euthanasie" seit 1941, in die auch Häftlinge und Zwangsarbeiter gerieten, abgehandelt und mit statistischem Zahlenmaterial untermauert. Bisheriges Wissen wird damit auf eine breite territoriale Basis gestellt und mit Fachkenntnissen untermauert. Dabei haben sich die Autoren weder zu Apologien noch zu von "Betroffenheit" geprägten Aussagen verleiten lassen, sondern ihre Untersuchungen sind von objektiver Abgewogenheit geprägt, durch die allerdings die Sterilisationsmaßnahmen und die Morde an Behinderten und als behindert ausgegebenen Personen, die nicht in die NS-Gesellschaft passten, umso erschreckender wirken. Zusätzlicher knapp angesprochener Aspekt zu den bisherigen Untersuchungen über die Geschichte der Anstalten ist die Behandlung der medizinischen Experimente (Tuberkulose und multiple Sklerose), die eben nicht allein in Konzentrationslagern durchgeführt worden sind.

Dem Leser mag die äußerliche Gleichförmigkeit der einzelnen Aufsätze zunächst ermüdend erscheinen, aber gerade mit den Wiederholungen ist die generelle Verlässlichkeit der Angaben gesichert worden. Zugleich stellt die Aufarbeitung der einzelnen Anstaltsgeschichten eine nicht mehr zu revidierende Distanzierung zu einer Vergangenheit dar, die bis in die Gegenwart sowohl in einzelnen Anstalten wie auch in der Öffentlichkeit noch immer gern beiseite geschoben oder auch "besser vergessen" werden sollte. Die historische Forschung, die aus sozialgeschichtlichem Blickwinkel die "Psychiatrie im Nationalsozialismus" betrachtet, wird in dieser Aufsatzsammlung kaum neue Fragestellungen finden, dafür aber eine sorgfältige zeithistorische "Feldforschung", die mit exakten Daten aufwartet und direkte Vergleiche zulässt. Siemen hat überdies nicht allein eine allgemeine Einleitung in die Geschichte der nationalsozialistischen Psychiatrie geschrieben, sondern darüber hinaus eine mit eigener Forschung verbundene Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Co-Autoren vorgelegt, die den Historikern und Medizinern, die sich nicht für einzelne Anstalten interessieren, sondern einen Gesamtüberblick wünschen, erforderliche Angaben liefert.

Handelt es sich also um eine Publikation in kühler Distanzierung zur Vergangenheit? Die objektiven Einzeluntersuchungen zeigen Engagement. Darüber hinaus ist das "Selbstgespräch eines Arztes" wieder abgedruckt, das erstmalig 1946 um den Versuch einer Auseinandersetzung mit eigenem psychiatrischen Tun bemüht war. Gewidmet ist die Arbeit Ernst Lossa - einem nicht angepassten Jugendlichen ("asozialer Psychopath"), der 1944 im Alter von vierzehn Jahren durch eine Morphiuminjektion ermordet wurde, weil er in der Kaufbeurer Heil- und Pflegeanstalt für die durch die "E-Diät" Faltlhausers zum Hungertod verurteilte Patienten Lebensmittel gestohlen hatte. Diese Widmung unterstreicht Cranachs Aussage im Nachwort, die eigentlich selbstverständlich sein sollte, deren potenzielle Notwendigkeit aber nicht in Frage werden kann: " Die Kenntnis der Vergangenheit und insbesondere die Kenntnis der vergangenen Irrwege ist die Voraussetzung, um die Zukunft zu gestalten." - Für künftige regionale und territoriale Übersichten zur Geschichte der "Psychiatrie im Nationalsozialismus" ist hier eine beispielhafte Vorlage gegeben worden.

Martin Vogt, Darmstadt





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