ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Pascal Grosse, Kolonialismus, Eugenik und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland 1850-1918, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2000, 266 S., kart., 58 DM.

Es gibt historische Buchtitel, zu denen es eines gewissen Muts bedarf, da sie so umfassende Themen ankündigen, dass man kaum glauben kann, sie in einem einzigen Band behandelt zu sehen. Nicht selten aber stellen sich gerade sie als gute, mindestens als interessante Bücher heraus. Pascal Grosses Studie ist ein solcher Fall. Drei Schlagworte, die drei hochkomplexe Themenfelder markieren und dennoch vermag Grosse, sie auf gut 260 Seiten in einer Weise miteinander zu verknüpfen, die für alle drei Forschungsgebiete neue Einsichten bereithält.

Das gelingt natürlich nur, wenn man sich theoretisch und empirisch auf die wirklichen Schnittfelder der drei Themenfelder konzentriert, auf Phänomene, bei denen ihr Zusammenhang auf der Hand liegt. Dies so zu tun, dass die Ergebnisse und Thesen aber nicht nur diese Schnittfelder ausleuchten, sondern über sie hinaus in alle drei Forschungsfelder ausstrahlen, ist die eigentliche Leistung von Grosses Buch. Natürlich hat sie ihren Preis. Vieles muss ausgeblendet werden, nicht nur thematisch, auch theoretisch: Grundbegriffe, mit denen Grosse arbeitet (wie etwa Rassismus oder Biologismus), können notgedrungen nur kurz abgehandelt, ihre Verwendungsweisen oft nur postuliert werden und auch die analytische Bewertung des Zusammenhangs, den der Titel ankündigt, erscheint bisweilen nicht ganz zu Ende gedacht. Um es vorwegzunehmen: Grosses Buch ist anregend, gerade weil es in der Beantwortung seiner Fragestellung eine Reihe neuer Fragen aufwirft.

Die im Titel gewählte Reihenfolge der drei behandelten Themenfelder kehrt die Rangfolge ihrer bisherigen Relevanz in der Forschung um: Die Bürgertumsforschung war und ist immer noch eines der Forschungsfelder, über die in den letzten 20 Jahren intensiv und umfassend gearbeitet wurde. Seit gut zehn Jahren erfreut sich auch die Eugenik, obgleich faktisch ein eher kleines Spezialgebiet, in sozial- ebenso wie in wissenschaftshistorischer Perspektive eines regen Forschungsinteresses. Zwischendurch hatte man sogar den Eindruck, dass die Forschung in den Schriften eines Alfred Ploetz oder Wilhelm Schallmayer sowie in den rassenhygienischen Zirkeln der 1920er-Jahre eine Art Kernstück der deutschen Geschichte vor Auschwitz, gleichsam den Faschismus in der Nuss-Schale, gefunden zu haben meinte. Seit sich herumgesprochen hat, dass die Eugenik eine internationale und bis zum Zweiten Weltkrieg geradezu "normale" Wissenschaft war, ist die Sache wieder komplizierter geworden. Der Kolonialismus schließlich, in Ländern wie Frankreich, England, Spanien und sogar in den USA ein schon seit langem nicht mehr wegzudenkendes Forschungsfeld, war in Deutschland bis vor kurzem ein geradezu – der Witz sei erlaubt – exotisches Fachgebiet. Sicher, es gab in den 1970er-Jahren eine umfassende Debatte über den Imperialismus, aber diejenigen, die den deutschen Kolonialismus als ein wirkliches Forschungsfeld bearbeiteten, waren lange an einer Hand abzuzählen. Das hat sich jetzt geändert. In letzter Zeit hat besonders eine jüngere Generation von Historikern sich des Themas unter ganz neuen oder zumindest veränderten Blickwinkeln angenommen. Dies ist umso wichtiger, als sich schnell herausstellte, dass der deutsche Kolonialismus – bislang als eine bloße (wenn auch drei Jahrzehnte währende) Episode der deutschen Geschichte angesehen – Entscheidendes zur gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklung zwischen der Mitte des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts beigetragen hat.

In diese neuere Literatur reiht sich auch Grosses Studie ein. Die historische Relevanz der Kolonien und der kolonialen Situation erschöpft sich bei ihm nicht in ideologiegeschichtlichen Kausalverbindungen nach dem Motto "Der Kolonialismus diente dazu ...", sondern es geht ihm um die Verwebung des kolonialen Erfahrungsraums (ob vor Ort, medial vermittelt oder schlicht imaginiert) mit einer wissenschaftlichen Disziplin, die damals als die Wissenschaft der Zukunft gehandelt wurde, und mit dem umfassenderen Selbstverständnis des deutschen Bürgertums in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Dem ausgebildeten Mediziner Grosse gelingt dabei die Analyse der wissenschaftlichen Diskurse, ihrer Rolle und ihrer Veränderung im und durch den Kolonialismus besser als die Ableitung weiter gehender Thesen zur "Lage" der bürgerlichen Gesellschaft um 1900. Obgleich er über die bloße Feststellung, dass sowohl Eugenik als auch Kolonialismus primär bürgerliche "Projekte" und Imaginationsräume repräsentierten, hinaus will, vermag er das im letzten teil der Studie nur durch den Rückgriff auf eine im Prinzip recht alte Diskussion über bürgerlichen vs. konservativen Militarismus. Das aber eröffnet nicht nur ein eigentlich neues und weiteres Forschungsgebiet (theoretisch hätte also auch der Begriff des Militarismus noch in den Titel gemusst), sondern auch eine allzu offene Flanke für die Kritik. Denn wenn auch noch der bürgerliche Militarismus – selber ein höchst ambivalentes Phänomen – "als eugenisches Konzept" zu verstehen sei, dann wird die Eugenik wohl doch noch überlastet und die bis dahin stringente Argumentation fängt an, Halt zu verlieren.

Überhaupt ist Grosses Präsentation der Eugenik von einer gewissen Spannung durchzogen, die dem Buch am Ende aber eher seinen spezifische Reiz verleiht als schadet. Einerseits hat Grosse ein recht enges Verständnis von Eugenik, die er als eine strikt auf "biologische Leistungsmaximierung" ausgerichtete Bewegung zur "Etablierung und Organisation einer rassischen Ordnung und deren biologischer Reproduktion" bestimmt. Damit fallen zum einen etwa alle dezidiert darwinistischen Positionen, zum anderen alle über die strikt biologische Steuerung hinausgehenden Konzepte einer kolonialen Rassenpolitik (oder auch einer völkischen Politik) aus dem Blickfeld der Untersuchung. Zum anderen aber werden systematisch Phänomene wie die "Eingeborenenpolitik", die "Akklimatisationsfrage", die "Mischehenfrage" und schließlich auch der "Militarismus" in der inneren Struktur ihrer Behandlung und Diskussion während des Kaiserreichs als im Grunde eugenische Programme ausgewiesen, zumindest aber der umfassende Einfluss einer eugenischen Logik in ihnen deutlich gemacht. Gerade weil Letzteres über weite Strecken unmittelbar überzeugt, sprengen die eigentlichen Ergebnisse der Studie den recht engen Eugenik-Begriff, der zu Beginn eingeführt wird.

Das wird besonders da deutlich, wo Grosse auch den kolonialkritischen Diskurs in die Untersuchung aufnimmt und zeigen kann, dass und wie Befürworter und Kritiker des Kolonialismus innerhalb eines und des gleichen Horizonts argumentierten, der von den eugenischen Fragen nach den Grundlagen und Steuerungsmöglichkeiten der "Volksentwicklung" in Kolonie und Heimat geprägt war. Vielleicht hätte hier ein etwas weiterer und weniger an die strikt biologischen und wissenschaftlichen Definitionen der Eugenik angelehntes Konzept etwa eines "eugenischen Paradigmas", das auch dort wirksam war, wo nicht explizit von ihm geredet wurde, die Hauptthesen der Studie schärfer fassen können. Denn dass biologische Volksverbesserungsvorstellungen eine ganz entscheidende Rolle im Kolonialismus sowie in seinen Effekten auf die politische und soziale Selbstwahrnehmung der Gesellschaft des "Mutterlandes" spielten, daran kann man nach Grosses Studie nicht mehr grundlegend zweifeln. Es ist vor allem dieser Nachweis einer sich durch die verschiedenen untersuchten Debatten und Problemfelder hindurchziehenden, in ihnen aber unterschiedlich zum Ausdruck kommenden eugenischen Logik, der das Buch auch jenen interessant machen sollte, die sich nur mit Kolonialismus, nur mit Wissenschaftsgeschichte oder nur mit den bürgerlichen Reformbewegungen beschäftigen. Zumindest aber regt es an, über die Verbindungen zwischen den drei im Titel genannten Themenfelder auch über den von Grosse gewählten Zugang hinaus nachzudenken.

Damit stellt das Buch auch – allerdings wiederum, ohne dies zu explizieren – die Verbindungslinien zwischen dem Imperialismus des Kaiserreichs und den rassenpolitischen Programmen des Nationalsozialismus zur Diskussion. Von einer älteren Forschung als kaum relevant angesehen, liegt in dieser Frage nach bislang kaum wahrgenommenen Kontinuitäten ein wichtiges und viel versprechendes Forschungsfeld. Zumal eine solche Historisierung der 30 Jahre des deutschen Kolonialismus auch einen Beitrag zur Selbstverständigung in einer Zeit leisten kann, in der Deutschland – zum Guten oder Schlechten – wieder in den Kreis der weltpolitischen Mächte aufgenommen wird. Insofern ist Grosses Studie trotz ihrer bisweilen etwas willkürlich wirkenden Perspektivierung unbedingt zu begrüßen und man kann auf seine in den Anmerkungen angekündigte, umfassendere Studie über 'Kolonialmigration 1870-1945' mehr als gespannt sein.

Christian Geulen, Essen





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