ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Alexander, Die Freikonservative Partei 1890 - 1918. Gemäßigter Konservativismus in der konstitutionellen Monarchie (=Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 123), Droste Verlag, Düsseldorf 2000, 420 S., Leinen, 98 DM.

Parteien- und Politikgeschichte hat zurzeit wieder Konjunktur - und das zu Recht: Das zeigt auch die Studie von Matthias Alexander über die Freikonservative Partei im wilhelminischen Deutschland. Denn nicht nur die Geschichte der Nationalliberalen stellt noch ein erhebliches Desiderat der historischen Forschung dar, sondern in noch stärkerem Maße gilt das für die Freikonservativen und das, obwohl diese Partei bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs in der deutschen und vor allem in der preußischen Politik eine erhebliche Bedeutung als parlamentarischer Mehrheitsbeschaffer erlangte.

Für dieses Defizit gibt es - neben dem generellen Mangel an nichtsozialdemokratischen Parteistudien - einen sehr konkreten und einleuchtenden Grund: Die Quellenlage ist außergewöhnlich schlecht. Parteiakten sind überhaupt nicht vorhanden und auch die Nachlässe der hervorragenden freikonservativen Politiker sind - was die Geschichte der Partei betrifft - nur wenig ergiebig. Der Autor musste sich daher vor allem auf die Stenografischen Berichte, die Kommissionsprotokolle und die Kommissionsbeiträge im Parlament stützen. "Eine Geschichte der Reichspartei von innen zu schreiben, erwies sich [daher] als unmöglich" (S. 24). Dieser Mangel hat zur Folge, dass Alexanders Parteigeschichte nicht in erster Linie aufgrund theoretischer und systematischer Überlegungen konzipiert, sondern gewissermaßen nach Quellenlage geschrieben wurde.

Alexander untersucht seinen Gegenstand in vier großen Abschnitten: Nach einer kurzen Einleitung, in der er sich u. a. kenntnisreich mit dem gegenwärtigen Stand der Parteiforschung auseinander setzt, schildert er knapp Vorgeschichte und Weltanschauung der Freikonservativen bis zum Jahre 1890, in dem sie bei den Reichstagswahlen eine schwere Niederlage erlitten. In den folgenden Teilen setzt er sich mit dem Hauptkennzeichen der Partei, ihrer Rolle als Kompromisspartei und Mehrheitsbeschaffer sowie - sehr partiell - ihrer Parteigeschichte auseinander. Es folgt die Analyse der sozialen Zusammensetzung ihrer Parlamentsfraktionen, deren Ergebnisse aber für den weiteren Verlauf der Studie kaum Frucht bringend nutzbar gemacht werden können. Daran schließt sich ein umfangreicher Abschnitt an, in dem die Rolle der Partei als Mitgestalter in der praktischen Parlamentspolitik gewürdigt wird. Dies demonstriert Alexander bei dem Verhalten an ausgewählten Gesetzen. Deren Auswahl wurde allerdings wiederum vor allem aufgrund der vorhandenen Quellen, weniger jedoch aufgrund systematischer Auswahlkriterien getroffen. Auch hier zeigt sich wieder: Es handelt sich im Wesentlichen um eine Geschichte der Fraktionen und ihrer herausragenden Mitglieder und weniger um die der Partei.

Zu welchen Ergebnissen kommt nun diese Studie? Die selbst gestellte Frage nach den politischen Möglichkeiten einer gemäßigt konservativen Partei im wilhelminischen System wird äußerst differenziert und kenntnisreich beantwortet. Zum einen wird die schon bekannte Tatsache bestätigt, dass die Partei in der deutschen Vorkriegspolitik speziell als "Kompromiss fördernder und kompromissbereiter" (S. 377) konservativer Mehrheitsbeschaffer fungierte. Deutlich arbeitet Alexander aber auch heraus, dass die Partei daneben durchaus ein eigenes Profil besaß, erheblichen politischen Elan entwickelte und insbesondere im Preußischen Abgeordnetenhaus bei Steuerreform, Kommunalwahl- und Enteignungsgesetz mit Erfolg eine eigene Politik betrieb.

Im Reichstag hingegen blieb die Reichspartei - schon aufgrund ihrer geringen Abgeordnetenzahl, die zwischen etwa 20 und 30 schwankte - in ihrer politischen Wirkung eher blass. Dort war sie in der Tat meist ein Erfüllungsgehilfe konservativer Politik. Immerhin, bei der Durchsetzung von Reichsvereins- und Börsengesetz spielte sie auch dort eine nicht unerhebliche eigenständige Rolle.

Was die Bedeutung angeht, die die Freikonservative Partei für das System des Kaiserreiches insgesamt besaß, kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass sie vor allem ein Garant für das bestehende konstitutionelle Verfassungssystem des "Wilhelminismus" darstellte. Ihre Abgeordneten waren grundsätzlich mit der Kompetenzverteilung, die zwischen Reichstag und Regierung herrschte, einverstanden. Insofern war sie ein typisches Produkt dieses Systems und zugleich ein es unbedingt stützender Faktor.

Die Marginalisierung der Partei seit den Wahlen von 1912 hing - so Alexander - vor allem damit zusammen, dass das System der Wahlbündnisse, von denen die Partei in besonderem Maße abhängig war, offensichtlich jetzt nicht mehr funktionierte. Das wiederum beruhte darauf, dass sich das bürgerliche Lager zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt neu zu positionieren begann. Alexander hält es für durchaus möglich, dass sich das deutsche Parteiensystem vor dem Ersten Weltkrieg bereits so fest etabliert hatte, dass eine "alte" Partei wie die Freikonservativen schlicht überflüssig wurde. Die ehemaligen Reichsfeinde Zentrum und Linksliberale, ja partiell sogar die Sozialdemokratie, hätten sich – so seine Überlegungen - schon weit ins System integriert bzw. waren dabei das System in ihrem Sinne zu formen. Die Freikonservative Partei hatte sich damit also bereits vor der Revolution von 1918 überlebt.

Die Studie von Alexander leistet - fasst man ihre Ergebnisse zusammen - einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des deutschen Parteiensystems am Ende der wilhelminischen Ära. Die Frage, inwieweit das System noch reformierbar war oder aber in einer nicht mehr zu behebenden Krisensituation steckte, wird durch diese Studie nicht eindeutig beantwortet. Es werden jedoch Tendenzen verstärkt offen gelegt. Die zukünftige Diskussion wird sicherlich dadurch erleichtert werden, dass mit dieser Studie in der Parteiengeschichte eine erhebliche Lücke geschlossen werden konnte.

Karl Heinrich Pohl, Kiel





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