ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Paul Erker, Toni Pierenkemper (Hrsg.), Deutsche Unternehmer zwischen Kriegswirtschaft und Wiederaufbau. Studien zur Erfahrungsbildung von Industrie-Eliten, R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 331 S., geb., 98 DM.

Biografien sind in der Geschichtswissenschaft seit einiger Zeit wieder in Mode und auch an der Unternehmensgeschichte geht diese Mode nicht spurlos vorüber. Einen Erfolg hat dabei die einstige Hegemonie der Strukturgeschichte immerhin gehabt: Moderne Biografien untersuchen heute zumeist idealtypische Vertreter von Generationen oder gar in der Spielart der "Kollektivbiografien" die jeweiligen Generationen in Gänze. Diese theoretisch untermauerte und damit strukturhistorisch wieder hoffähig gemachte Biografie belebt den eigentlichen Ausgangspunkt der Unternehmensgeschichte neu: Die Unternehmerbiografie, die man auf der Müllhalde der wissenschaftlichen Sackgassen längst methodisch endgelagert glaubte.

Der vorliegende Sammelband ist im positiven wie im negativen Sinne eine Brücke zwischen beiden Stadien der Unternehmensgeschichte. Die sechs hierin versammelten biografischen Skizzen zu bedeutenden Unternehmern während des Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik (Heinrich Nordhoff, Hans-Günther Sohl, Hans Constantin Paulssen, Otto A. Friedrich, Ernst Heinkel, Heinrich Kost) erheben durch ihre Versammlung im Rahmen einer Anthologie wie durch die einleitenden Bemerkungen Paul Erkers den Anspruch einer idealtypischen Generation bzw. "Elite". Sowohl hinsichtlich dieses Anspruchs als auch in ihrer darüber hinaus gehenden Qualität fallen die Beiträge allerdings sehr unterschiedlich aus. Auch wissenschaftliche Brücken können eben immer in beide Richtungen befahren werden.

Schon die Einleitung des Mitherausgebers Paul Erker über Industrie-Eliten im 20. Jahrhundert lässt gewisse Verdachtsmomente aufkommen: Würde es sich um eine Synthetisierung der Forschungsergebnisse aus den einzelnen im Folgenden untersuchten Biografien handeln, so wären diese ihrer Legitimation beraubt, denn die Personen, um die es in den einzelnen Beiträgen geht, sind weder der Geschichtswissenschaft unbekannt, noch waren hier überwältigende neue Fakten zu erwarten. Die Einleitung ist daher vielmehr bestrebt, die einzelnen Aufsätze zu einer Gesamtaussage zusammenzukleben, einen allgemeinen Beitrag des Sammelbandes zur Erforschung der Industrieelite zu inszenieren. Die These, die Erker hierzu entwickelt, ist zwar äußerst griffig, stellt aber kaum zu bewältigende Ansprüche an ihre empirische Überprüfbarkeit: "Das Spannende an der Umbruchphase 1942-1953 war nicht die personelle Kontinuität und mentale/habituelle Diskontinuität, sondern die personelle Diskontinuität und mentale/habituelle Kontinuität." (S. 18). Lässt sich die Frage der personellen Kontinuität in erster Linie (wenn auch mit äußerster Vorsicht) wohl nur statistisch für einen größeren Personenkreis beantworten, so ist für die "mentale/habituelle" Ebene eine solche Vorgehensweise ausgeschlossen und die einzelne Biografie tritt in den Vordergrund der Überprüfung.

Dass der von Erker einleitend formulierten Umkehrung der bisher in der Forschung üblichen Annahme von personeller Kontinuität und mentaler Diskontinuität dann aber ausschließlich biografische Beispiele folgen, die geradezu idealtypisch für die personelle Kontinuität der deutschen Industrieelite zwischen Weimar und der BRD stehen, gehört zu den strukturellen Ungereimtheiten des Sammelbandes. Sämtliche von Erker in der Einleitung ebenso plausibel wie interessant herausgearbeiteten Erkenntnisse über die Koinzidenz von generationellem Wechsel in der Industrieelite und politischer Intervention der Alliierten nach 1945 bleiben damit im Bereich der nicht relevanten Forschung für die im folgenden untersuchten Unternehmer, welche sich durchweg bereits vor 1945 in Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft (definiert als Vorstandsmandat) befanden. Das Bild einer durch intensive personale Netzwerke geprägten und sozial äußerst homogenen Industrieelite zwischen 1942 und 1953, der es möglich war, auch über einschneidende politische Zäsuren und personelle Diskontinuitäten hinweg Rekrutierungsmuster und unternehmenspolitische Leitbilder fortzupflanzen, steht damit seltsam unverbunden den restlichen Texten des Sammelbandes gegenüber. Im Hinblick auf die darauf folgenden Biografien wirkt die Einleitung als nachträglich aufgesetzte Systematisierung, Theoretisierung und Legitimierung weitgehend klassischer Biografien.

Die von Cornelia Rau-Kühne verfasste Biografie des Generaldirektors der Aluminium-Walzwerke Singen und späteren Präsidenten des Bundesverbandes Deutscher Arbeitgeberverbände, Hans Constantin Paulssen, stellt dabei eine in jeder Beziehung hervorhebenswerte Ausnahme dar. Die Verbindung zwischen seiner Sozialisation als aufsteigender Offizier im Ersten Weltkrieg und junger Befehlshaber des "Freikorps Paulssen" bis 1920 und seiner Tätigkeit als Leiter des südbadischen Walzwerkes eines Schweizer Aluminiumunternehmens hätte anschaulicher und überzeugender nicht dargestellt werden können. Nicht nur die Bereitstellung von Versorgungspositionen für ehemalige Kameraden verweisen auf die sozialisatorisch bedingte Unternehmensleitung Paulssens. Vielmehr erscheint nahezu jeder größere Konflikt innerhalb des Unternehmens durch eine Ansprache des "Generals" (wie die Beschäftigten ihn später nannten) prinzipiell als lösbar; immer wieder schafft es Paulssen, scheinbar unversöhnliche Positionen zwischen Unternehmensleitung, zeitweise sozialistischem Betriebsrat und später auch den Interessenvertretern der Fremdarbeiter zu vereinen und in eine gemeinsame Zielrichtung umzumünzen. Interessant dabei ist, dass diese vergleichsweise präzise datierbare Charakterbildung Paulssens sich während der gesamten Wirkungsdauer als Unternehmer, also von den 1920er- bis in die 1950er-Jahre hinein unverändert erhält und bewährt. Dabei weist Rau-Kühne immer wieder darauf hin, dass es sich um eine zutiefst konservative Grundhaltung Paulssens handelte, die sozialpolitische Wohltaten nur von der Position des unangefochtenen Unternehmensleiters verteilte und die sich während des Nationalsozialismus auch der Methoden der Denunziation und paramilitärischen Disziplinierung bediente, um das selbst definierte Ordnungsmodell durchzusetzen. Dass er während dieser Zeit nicht in die NSDAP eintrat, aber dennoch innerhalb der NS-Bürokratie als Leiter eines ausländischen Unternehmens ökonomische Erfolg verbuchen konnte, verdankte Paulssen – so Rau-Kühne – seinem außerordentlichen diplomatischen Geschick, wobei er die mit den ökonomischen Erfolgen zwangsläufig verbundene Rolle als struktureller Unterstützer des NS-Regimes zeit seines Lebens nicht erkannte. Den Nachweis "mental/habitueller" Kontinuität ist damit von Rau-Kühne also glänzend geführt – allerdings am Musterbeispiel einer personellen Kontinuität.

Der Beitrag von Volker R. Berghahn über den Vorsitzenden des Harburger Gummiunternehmens Phoenix AG, Otto A. Friedrich, erhebt nicht den Anspruch eine komplette Unternehmerbiografie zu schildern, sondern beschränkt sich auf die Ebene der mentalen Prägung Friedrichs, seine Stellungnahmen zur Wirtschaftspolitik, den Industriellen Beziehungen und der deutschen Außenwirtschaftspolitik. Hierzu kann Berghahn auf ausführliche Tagebuchaufzeichnungen des untersuchten Unternehmers zurückgreifen und die Randbemerkung, dass es sich bei solchen Quellen um einen außerordentlichen Glücksfall für die im Sammelband untersuchte Fragestellung handelt, wird hier endlich ausgesprochen, nachdem sie fast drohend über den bis zu dieser Stelle immerhin 200 Seiten Text geschwebt hatte.

Friedrich verkörpert geradezu den Idealfall der bereits früher von Berghahn vertretenen These, nach der unter den Umständen der "deutschen Katastrophe" in den Jahren 1945 bis 1948 unter der Industrieelite ein Umdenken stattgefunden habe und die unternehmens- und wirtschaftspolitischen Leitbilder der Weimarer Zeit und des NS den Idealen der westlichen Marktwirtschaft gewichen seien, eine These, von der sich Erker in der Einleitung so vehement distanziert hatte. Friedrich, der einen eher ungewöhnlichen Karriereverlauf über Arbeiter- und Angestelltentätigkeiten in den USA und gescheiterer früher Selbstständigkeit in Berlin nahm, stand dem NS zunächst skeptisch gegenüber, bevor er auf dem Höhepunkt der militärischen Erfolge 1941 in die NSDAP eintrat und bis Kriegsende tief in die NS-Rüstungsbürokratie verstrickt war. Nach dem Krieg fand er dann langsam und unter dem Zwang der sich verändernden Realitäten den Weg zu einem Verfechter der sozialen Marktwirtschaft und Gegner der Kartellbestrebungen der Ruhrindustriellen. Im Unternehmen war er von den amerikanischen Human-Relations-Ansätzen theoretisch wie in der praktischen Umsetzung wesentlich geleitet.

Auch der Beitrag Paul Erkers über den Flugzeugpionier Ernst Heinkel betont die Untersuchung der Leitbilder des eigentlich als "genialer Techniker" bekannten Unternehmers. Mit seinen einfühlsamen Deutungen schafft es Erker, die Welt des Ernst Heinkels zu zeichnen, eine wohl nur psychologisch zu erklärende verschrobene Sicht, die insbesondere seine Rolle während des NS in der Nachkriegszeit fast bemitleidenswert verdrehte. Als "Opfer des Nationalsozialismus" und als "Widerstandskämpfer" verstand sich der Unternehmer, der wie kaum ein anderer von der NS-Rüstungspolitik profitierte, die es ihm ermöglichte, ein Imperium von Flugzeugfertigungswerken aufzubauen mit mehreren Tausend Beschäftigten. Nur weil Einzelne seiner Konstruktionen vom Reichsluftfahrtministerium zurückgewiesen wurde, weil sein schärfster Konkurrent, Messerschmitt, bei einzelnen Typen vorgezogen wurde und weil die hochgradig staatlich organisierte Luftfahrindustrie den Handlungsspielraum für den exaltierten Techniker einengte, kam es überhaupt zu Konflikten zwischen Heinkel und seinen Parteigenossen innerhalb der Bürokratie. Ausführlicher hätte die Ausformung der Industriellen Beziehungen in den Heinkel-Werken geschildert werden können, die die Beschäftigten als Angehörige der "Heinkel-Familie" mit "Heinkel-Geist" und "Heinkel-Tempo" zu Werke gehen ließ und in der Nachkriegszeit auch übertriebene Lohnforderungen mit dem einfachen Hinweis auf die schlechte finanzielle Situation der Nachkriegswerke kontrollierbar machte. In einer geradezu mythischen Konstruktion der Person Heinkels, an der er durch seine Selbststilisierung als zu unrecht von politischen Kalkülen an der Entfaltung technischer Genialität gehinderter Unternehmer nach Kräften mittat, scheint ein Schlüssel zur Biografie Heinkels wie manch anderer Angehöriger der NS-Industrieelite zu liegen, die diesen Unternehmern nicht zuletzt die Entnazifizierung enorm erleichterten.

In ihrem Beitrag über Heinrich Nordhoff fällt Heidrun Edelmann gerade auf eine solche (zumindest anteilig immer selbst produzierte) Mythisierung herein. Nirgends setzt sich die Autorin ernsthaft mit der Frage auseinander, welchen Anteil denn die Person oder die Aktivität Nordhoffs mit dem unternehmerischen Erfolg oder Misserfolg der von ihm geleiteten Betriebe, Betriebsteile oder Verwaltungseinheiten hatte. Lediglich als Betriebsleiter des Brandenburger Opelwerkes zwischen 1942 und 1945 wird Nordhoff eine eindeutige unternehmenspolitische Strategie unterstellt, die aber letztlich zu nichts weiter dient, als seine Kooperation mit den Nationalsozialisten, die er als "Wehrwirtschaftsführer" und Leiter des Sonderausschusses Dreitonner zweifellos pflegte, nachträglich als kluge Unternehmensstrategie für die Nachkriegsplanung zu legitimieren. Einzig der Erhalt des Produktionsstandortes und Vorarbeiten für die Zeit nach dem Krieg sei Antrieb Nordhoffs gewesen. Selbst die Beschäftigung von Zwangsarbeitern hätte unter dem Gesichtspunkt, seinen Arbeitern nach dem Krieg ein funktionsfähiges Werk erhalten zu können, letztlich sozial verantwortungsbewusste Züge gehabt, zumal Nordhoff als "gläubiger Katholik, dessen christlich geprägtes Verständnis von Menschenwürde auch gegenüber Zwangsarbeitern uneingeschränkt galt", den Zwangsarbeitern stets eine "korrekte Behandlung" angedeihen ließ, was sich aus den Zeugenaussagen im Entnazifizierungsprozess belege.

Toni Pierenkempers Beitrag krankt im Wesentlichen an der Entscheidung, die unveröffentlichen Lebenserinnerungen Hans-Günther Sohls aus dem Jahr 1983 als ausgiebig zitierte zentrale Quelle zu verwenden. Zwar sind zentrale Punkte der Erinnerung Sohls, wie z.B. seine Einschätzung der betrieblichen Mitbestimmung Anfang der 1950er-Jahre wohlwollend gegenüber gestanden zu haben, anhand anderer Quellen leicht zu widerlegen. Die Perspektive Sohls aber wird auf den Beitrag Pierenkempers zumindest strukturell dadurch übertragen, dass wirtschaftspolitische und strategische Überlegungen Sohls den eigentlichen Ausgangspunkt der Biografie und des Erfolgs darstellen, während seine betriebsorganisatorischen Leistungen und Anschauungen, seine Leitbilder über Verfassung von Unternehmen und Wirtschaft, Theorie und Praxis von Lohnforderungen usw. nicht berücksichtigt werden. Auf dieser Grundlage sind aber "mentale/habituelle" Ebenen nur schwer darstellbar. Lange Beschreibungen über die Rohstoffversorgung der Eisen- und Stahlindustrie an der Ruhr, über ihre Gegnerschaft zur Gründung der Hermann-Göring-Werke, über die alliierten Pläne zur Demontage lassen zumeist den Bezug zur Biografie Sohls vermissen. Insbesondere hinsichtlich der Frage, welchen Anteil Sohl an dieser Entwicklung hatte und inwiefern die Entwicklung mit seiner spezifischen Erfahrungsbildung zwischen Nationalsozialismus und Bundesrepublik erklärbar ist, fehlen abschließende Bewertungen, sodass der Schluss-Satz mit dem Verweis auf Sohls Vorstellung von der "autoritären Harmonie" in Unternehmen eher wie der Anfang zu einem neuen Artikel, denn als Abschluss des soeben gelesenen wirkt. Immerhin wird hier wenigstens drauf verwiesen, dass in den zahlreichen biografischen Skizzen zu Sohl aus dessen Zeit als Vorstandsvorsitzender von Thyssen in den 1950er- und 1960er-Jahren und als Präsident des BDI in den 1970er-Jahren eine Mythisierung der Person stattgefunden hat.

Auch Evelyn Krokers Beitrag über den Bergbauunternehmer Heinrich Kost streift die theoretischen Fragestellungen, den Zusammenhang einer typologischen Industrieelite zwischen Weimar und BRD nur am Rande. Die Biografie Kost wird letztlich dazu benutzt, um die komplizierte Dekartellierungsgeschichte des deutschen Bergbaus, in der Heinrich Kost als Leiter der von den Alliierten übernommenen Kontrollbehörde zwischen 1947 und 1953 eine exponierte Rolle spielte, zu erzählen – was allerdings sehr gut gelungen ist.

Am Ende der Lektüre dieser schon von der Quantität sehr unterschiedlichen Beiträge fällt eine Bilanz nicht eben leicht. Sicherlich helfen biografische Skizzen, die deutsche Geschichte zwischen 1940 und 1960 zu erhellen und die Frage der "mentalen/habituellen" bzw. der personellen Kontinuität bieten hierzu ein gut funktionierendes Handwerkszeug. Warum aber müssen es Unternehmer sein? Geht man davon aus, dass Unternehmer gegenüber anderen Funktionseliten größeren Handlungsspielraum besaßen, Leitbilder und sozialisatorisch bedingtes Erfahrungswissen in konkrete Alltagszusammenhänge umzusetzen, dann bleibt im vorliegenden Sammelband ausgerechnet dieser Mechanismus doch insgesamt sehr im Dunkeln. Damit aber begibt sich die biografische Mode in der Unternehmensgeschichte letztlich in die Abhängigkeit von der Quellenüberlieferung, denn die Vorstellungen von Unternehmern sind eben immer besser dokumentiert als die ihrer Beschäftigten. Elitenforschung in diesem Zusammenhang wäre damit nichts weiter als eine Affirmation der betrieblichen Hierarchien, wenn diese Hierarchien nicht gleichzeitig als semantisches Feld der Konstruktion von Unternehmermythen dekonstruiert werden.

Jan-Otmar Hesse, Frankfurt am Main





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