ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gertrud Pickhan, "Gegen den Strom". Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund "Bund" in Polen 1918-1939, (= Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Leipzig, Band 1), Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart-München 2001, 445 S., geb., 128 DM.

Gertrud Pickhans Studie über den "Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund" ist weit mehr als ein parteiengeschichtlicher Beitrag im engeren Sinne zur Arbeiterbewegung in Osteuropa nach dem Ersten Weltkrieg. Zwar bildet die Geschichte des "Bundes" im 1918 wiederentstandenen Polen, die bislang weit weniger erforscht war als die beiden ersten Jahrzehnte seines Bestehens innerhalb des Russischen Reichs, den Rahmen der Untersuchung. Aber Pickhan geht es doch um weit mehr: Um eine Rekonstruktion von "yidishkeyt" als "Ethno-Klassenbewusstsein", das für die Identität des "Bundes", der hier als ein Organisations- und Vereinsnetz dargestellt wird, konstitutiv war. Daraus resultieren zwei analytische Perspektiven: Zum einen erfordert der "Bund" eine differenzierte Analyse von jüdischer Ethnizität, die sich in den Kernfragen: Polen oder Palästina?, Volk oder Klasse?, religiöser oder ziviler Glaube?, jiddische, hebräische oder polnische Sprache? bündeln lässt. Die andere Perspektive ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der antisemitischen Umgebung der Zwischenkriegszeit der Shoah und der Deportationen durch den NKVD zu sehen. Aus ihr resultierte bisher eine überwiegend negative historische Einschätzung der bundischen "yidishkeyt", während der Zionismus oftmals als einziges zukunftsweisendes Projekt für die osteuropäischen Juden gesehen wurde. Gegen die in den bisherigen Darstellungen häufig anzutreffende Polarisierung zwischen Antisemitismus und Judenvernichtung einerseits und zionistischer Alternative andererseits setzt Pickhan anhand der stellenweise disparaten Quellenlage und der umfangreichen Forschungsliteratur eine behutsame Rekonstruktion der Entwicklung und der Struktur des "Bundes" und seiner Stellung innerhalb des jüdischen Milieus, des polnischen Parteienspektrums und der internationalen Arbeiterbewegung.

Die Entscheidung von Funktionären des "Bundes", sich als Partei innerhalb der zweiten polnischen Republik zu organisieren, führte nicht nur zu einem langjährigen Transformationsprozess, in dem sich vor allem das Vereinsnetzwerk des "Bundes" und sein kommunalpolitisches Engagement in den Vordergrund schob. Im polnischen Staat musste der "Bund" nun auch seine Identität neu, und zwar als ethnische, im Kontext von Mehrheit und Minderheit definieren. Durch den Mechanismus, den Norbert Elias als Doppelbinderfalle beschrieben hat, geriet die jüdische Minderheit in eine schwierige Situation gegenüber dem polnischen Nationalismus. In dieser Lage entwickelte der "Bund" jedoch ein Konzept von "doikeyt" ("Hiesigkeit"), vom Bleiben in Polen, das bis 1939 bestimmend blieb.

Anschließend untersucht Pickhan die Parteistruktur des "Bundes". Die Mitglieder der Parteiführung, deren Identifizierung nicht vollständig möglich war, werden nach den Kriterien von Geschlecht, Herkunft, Ausbildung und Generation analysiert. Pickhan arbeitet insbesondere heraus, dass das Erlebnis von 1905 eine erhebliche Prägekraft hatte, dass der familiäre Hintergrund deutlich von dem Gegensatz zwischen Traditionalität und Moderne geprägt war und dass das Eintreten für jiddische Kultur einen wichtigen Beitrag zum Engagement im "Bund" bildete. Die Parteimitglieder waren freilich wesentlich jünger als die Parteiführung und rekrutierten sich in weit stärkerem Maße aus Arbeitern und Handwerkern. Das regionale Zentrum der Partei lag in Kongresspolen, dagegen hatte sie einen wesentlich schwereren Stand in Galizien. Neben vertikalen und horizontalen Trennlinien skizziert Pickhan insbesondere die Kulturformen der bundischen "Zivilreligion" wie Feste, Trauerfeiern und Hymnen.

Die Stellung des "Bundes" innerhalb der jüdischen Bevölkerung Polens beschreibt Pickhan als Milieu, das von "Arbeit als Kult" sowie jiddischer Sprache und Kultur geprägt war. Zentral war jedoch das Verhältnis des "Bundes" zur nationalen Frage. Hier hielt man am austromarxistischen Konzept der Kulturautonomie der nationalen Minderheit fest und stand so bis 1939 in scharfem Gegensatz zu den Zionisten, einschließlich der Arbeiterpartei "Poale Zion". Gegen den zunehmenden Antisemitismus, der auch vor der Polnischen Sozialistischen Partei nicht halt machte, zu der der "Bund" die engsten Beziehungen im polnischen Parteiensystem hatte, verteidigten die Bundisten ihr Konzept von "doikeyt" und engagierten sich, trotz prinzipiell weltlicher Orientierung auch in der religiösen Gemeinde.

Sowohl innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung, wo der "Bund" 1930 der Sozialistischen Arbeiter-Internationale beigetreten war, als auch im Hinblick auf seine Position zwischen Antisemitismus und Zionismus verfolgte der "Bund" einen "dritten Weg". Allerdings wurde die Stellung des "Bundes" in den Dreißigerjahren zunehmend prekärer und neben der Bekundung der Loyalität als polnische Bürger stand doch manchem die zunehmende Bedrohung klar vor Augen.

Manche der Quellenbelege für das emphatische "Wir"-Gefühl der Bundisten mag man vielleicht distanzierter betrachten, als sie in der Studie präsentiert werden. Sie zeigen jedoch die Lebendigkeit des Konzepts "yidishkeyt" bei aller Komplexität. Wenn die Ethnizität des bundischen Milieus im Gegensatz zur polnischen und zionistischen nicht als territorial exklusive denkbar war, dann zeigt sich in dem leitmotivischen Titel "Gegen den Strom", der einer Zeitschrift des "Bundes" entlehnt ist, eine humane Alternative zur Vorstellung des ethnisch homogenen Nationalstaates. Hier liegt zweifellos ein gewichtiger Beitrag zur Erforschung von moderner Ethnizität in Osteuropa vor.

Jörg Hackmann, Greifswald





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Dezember 2001