ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, Verlag C. H. Beck, München, 2000, XVIII, 505 Seiten, geb., 48 DM.

Die wechselvolle Geschichte Polens begleitet den 1939 in Bolton, Lancashire, geborenen Norman Davies, emeritierter Professor der School of Slavonic and East European Studies in London, vom Beginn seiner akademischen Karriere bis zur Gegenwart: Angefangen von der 1972 in England unter dem Titel "White Eagle - Red Star: the Polish-Soviet War 1919- 20" veröffentlichten Darstellung des polnisch-sowjetischen Krieges, die er im Wesentlichen während eines Aufenthaltes in Krakau verfasste, bis hin zu seiner Studie über "Wroclaw – Breslau", die 2001 bei Cambridge University Press erscheinen wird. Dazwischen liegt vor allem das bedeutende zweibändige Werk "God's Playground. A History of Poland" von 1981, dem drei Jahre später "Heart of Europe. A Short History of Poland" folgte, eine durchaus eigenständige, konzeptionell anders aufgebaute Abhandlung, nicht bloß eine verdichtete Version des zuvor präsentierten Opus magnum. Dieses Werk wird nun vom Beck Verlag München, ergänzt um ein "Schlusskapitel" für die Entwicklung der Jahre 1983 bis 1999, in einer deutschen Übersetzung vorgelegt.

Irritierend wirkt dabei zunächst, dass aus der "Kurzen Geschichte Polens" flugs eine "Geschichte Polens" wurde. Verlegerisch lässt sich diese Entscheidung natürlich mit guten Argumenten vertreten, zumal im gleichen Jahr bei Suhrkamp "Eine kleine Geschichte Polens" erschien, inhaltlich dagegen nicht. Denn das Werk von Davies, das während der polnischen "Solidaritäts"-Bewegung Anfang der Achtzigerjahre entstand, ist keine gewöhnliche Geschichtsdarstellung. Durch die Umkehr der chronologischen Reihenfolge war es vollständig auf eben jene damalige Gegenwart zugeschnitten. "Das Buch beschränkte sich streng auf jene Aspekte der Vergangenheit Polens, die für die aktuelle Situation besonders wichtig waren", so Davies in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe, "und ging nicht auf Themen ein, die nicht mehr relevant waren". Angesichts einer solchen Gesamtkonzeption lässt sich ein Werk, das in der Form der Darstellung mit der Gegenwart beginnt und Zug um Zug in die Vergangenheit vorstößt, naturgemäß nicht einfach aktualisieren. So wurde denn das "Schlusskapitel" für die Jahre 1983 bis 1999, das sachlogisch an den Anfang gehört hätte, überraschend an den Schluss gestellt - eine Lösung, die bestenfalls als Notlösung gesehen werden kann.

Was aber ist in einer Ländergeschichte - und diese Frage ist von ungleich größerer Relevanz als diejenige nach den formalen Gestaltungsprinzipien - "nicht mehr relevant"? Die Frage wird an keiner Stelle befriedigend beantwortet. Dass eine "Geschichte Polens" von mehr als 500 Seiten für das "Polen vor 1795" lediglich die Seiten 254-320 reserviert, ja dass die politisch wie kulturell so faszinierende Entwicklung des Landes während des 16. Jahrhunderts, des "Goldenen Zeitalters", auf weniger als fünf Seiten abgehandelt wird, muss den Leser doch einigermaßen überraschen, zumal ihm auch auf dem Umschlag eine "Geschichte der polnischen Nation von ihren Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart" angekündigt worden ist. Dass dann auch noch ausgerechnet Joseph II., der sich auf dem Umschlagbild mit den Monarchen der anderen Teilungsmächte im Zuge der Ersten Teilung Polens 1772 über eine Landkarte Polens beugt, im Register anachronistisch als "Kaiser von Österreich" vorgestellt wird, lässt endgültig befürchten, dass es hier mit der älteren Vergangenheit nicht so genau genommen wird. Für die jüngere Vergangenheit, für das 19. und 20. Jahrhundert, wird der Leser allerdings mit einer vorzüglichen Darstellung auf hohem Niveau versöhnt, die hohe Gelehrsamkeit mit literarischem Anspruch zu verbinden versteht.

Makrohistorische, überindividuelle Entwicklungslinien werden mit der gleichen Souveränität vorgestellt wie die konkreten Subjekte der Geschichte: die handelnden Personen in ihren wechselvollen Biografien, Lebensentwürfen und Abhängigkeiten. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht thematisiert, kaum einen Aspekt der polnischen Mentalität und der kulturellen Identität, der nicht auf seine Wurzeln hinterfragt würde. Eine klassische "Geschichte Polens" hat der Leser daher nicht zu erwarten: wohl aber eine ungemein anregende, auf die politische Gegenwart hin ausgerichtete Vorstellung eines Landes, das noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein bloßes historisches Konzept gewesen war, das 1918 als Staat wiedererrichtet und nur 21 Jahre später abermals zerstört wurde, ehe dann weitere fünfzig Jahre später - mit den Worten von Davies - "die Befreiung ein weiteres Mal kam".

Joachim Bahlcke, Leipzig





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