ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Wagner, Claude Didry, Bénédictine Zimmermann (Hrsg.), Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2000, 442 S., kart., 88 DM.

Diese äußerst spannende Aufsatzsammlung bringt zwei der zentralen sozialwissenschaftlichen Themen der letzten zehn Jahre zusammen: Nation und Arbeit. Die hier behandelten Themen gruppieren sich allesamt um die Frage, wie sich die Arbeit in Frankreich und Deutschland zwischen dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nationalstaatlich ausgestaltete. Dabei zeigt der Band nachdrücklich, dass die Nation durchaus nicht der "natürliche" Rahmen für die Entwicklung von Regularien und Institutionen der Arbeitswelt war.

Das Buch ist in drei Sektionen unterteilt: Im ersten Teil wird untersucht, auf welche Weise der Staat als zentrale Ressource eingesetzt wurde um mit den Herausforderungen des liberalen Kapitalismus an die bestehende soziale Ordnung fertig zu werden. Angelo Pichierri beschreibt dabei, wie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts regionale ökonomische Identitäten an nationale Projekte anlehnten. Dieser Trend zur Nationalisierung wirtschaftlicher Prozesse erfuhr, wie Claude Didry und Peter Wagner argumentieren, durch den Ersten Weltkrieg noch einmal einen kräftigen Schub. Die Wirtschaftsstatistiken, die J. Adam Tooze für den Zeitraum zwischen 1914 und 1950 untersucht, belegen dies ebenfalls nachdrücklich. Ulrich Mückenberger und Alain Supiot vergleichen im Anschluss daran die Entwicklung von zwei Arbeitsrechtskulturen in Deutschland und Frankreich, während es bei Jürgen Schriewer und Klaus Harney viel über die beruflichen Ausbildungssysteme beider Länder zu lernen gibt.

In einem zweiten Teil geht es darum, die Entwicklung von Formen des staatlichen Handelns aufzuzeigen, die der durch den ökonomischen Liberalismus erzeugten sozialen Krise vorbeugen sollte. Didier Renard und Sandrine Kott vergleichen in ihren jeweiligen Beiträgen in diesem Zusammenhang die französische und deutsche Sozialpolitik bzw. die Entstehung des Sozialstaats in beiden Ländern. Sabine Rudischhauser untersucht die Entwicklung eines nationalen Arbeitsmarktes in den zwei Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Schließlich stehen das Tarifvertragswesen in Deutschland sowie das Problem der Arbeitslosigkeit in beiden Ländern im Zentrum der Beiträge von Heidrun Homburg und Bénédictine Zimmermann.

Die vier Beiträge des dritten Teiles des Bandes beschäftigen sich mit den arbeitsprozessual verankerten Erscheinungsformen nationaler Identität. In einem spannenden Beitrag zeigt Alain Dewerpe, wie das Passagierschiff in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem Symbol für die französische Nation werden konnte. Mikael Hård und Andreas Knie rücken anhand des Dieselmotorenbaus die produktive Spannung in den Vordergrund, die eine deutsch-französische Zusammenarbeit für die Entwicklung von spezifischen Produkten haben konnte. Die beiden letzten Beiträge dieser Sektion sind nicht weniger interessant als die Übrigen; sie fallen allerdings chronologisch etwas aus dem Rahmen des Bandes heraus. Bei Normand Filion geht es um einen Vergleich französischer und deutscher Personalbewertungssysteme zwischen 1975 und 1995, während Robert Salais sich mit der Interdependenz von nationalen wirtschaftlichen Identitäten und Handelsbeziehungen in den späten 1980er-Jahren beschäftigt.

Insgesamt ist den Herausgebern allerdings ein durchaus kohärenter Band gelungen, dessen große Stärke es ist in vergleichender Weise und unter Heranziehung einer Reihe von wichtigen Fallbeispielen zu zeigen, wie sich die Kategorie der Arbeit zwischen den 1870er- und den 1930er-Jahren in beiden Gesellschaften nationalisierte. So aufschlussreich die hier vorgelegten vergleichenden Perspektiven im Einzelnen auch sind, so eindrücklich zeigt der Band darüber hinaus, dass der Vergleich allein den sich ja vielfältig überschneidenden Geschichten Frankreichs und Deutschlands nicht gerecht werden kann. Nation ist eben keine stabile Ausgangslage des Vergleichs, sondern vielmehr eine ständigen Wandlungen und Beeinflussungen unterlegene Instanz, deren Institutionen und Produkte historisch ableitbar sind. Diese Einsicht mag Historikern plausibler erscheinen als Soziologen, aber auch in der Geschichtswissenschaft hat ja in den letzten Jahren eine bislang keineswegs abgeschlossene methodische Debatte um das Verhältnis von Vergleich und Kulturtransferforschung stattgefunden.

Der stark interdisziplinär angelegte Band wird bei all jenen auf reges Interesse stoßen, die sich für die Wechselbeziehungen zwischen der Entstehung des Sozialstaats und der Nationalisierung wirtschaftlicher Praktiken interessieren. Wie der deutsche und der französische Nationalstaat sich jeweils bemühte, die Arbeitserfahrungen ihrer Bürger sozial abzufangen und ihren Erwartungen an staatliche Gestaltung entgegenzukommen, darum geht es in dem hier anzuzeigenden Buch vor allem.

Stefan Berger, Glamorgan/Wales





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