ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Oliver Janz, Pierangelo Schiera, Hannes Siegrist (Hrsg.), Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich (=Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient, Band 15), Duncker & Humblot, Berlin 2000, 283 S., 128 DM.

Der Band geht zurück auf eine gleichnamige Tagung im Dezember 1995 in Berlin. Eine italienischsprachige Ausgabe des Tagungsbandes erschien bereits 1997 (Centralismo e federalismo nell'Ottocento e nel Novocento. Italia e Germania a confronto). Er umfasst neben einer Einleitung von Janz und Siegrist sowie einem Einführungsreferat von Schiera insgesamt 16 Beiträge, die – mehr oder minder chronologisch geordnet – in zwei Blöcken die Entwicklung Italiens und Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert unter den Leitbegriffen Zentralismus und Föderalismus analysieren. Bei den Autoren handelt es sich zumeist um deutsche und italienische Kultur- und Zeithistoriker.

Anlass für die Tagung war die derzeitige Föderalismus-Diskussion in Italien, die mit dem angeblichen Versagen des italienischen Zentralstaates aufkam. In diesem Kontext wird die Frage erörtert, ob der deutsche Föderalismus ein Leitbild für die Reform der krisengeschüttelten italienischen Republik sein kann. Vor diesem Hintergrund und Aktualitätsbezug bildete die Diskussion, inwieweit Föderalismus und Zentralismus als Lösungsmodelle für das Staatsproblem taugen (so etwa P. Schiera), den Dreh- und Angelpunkt der Tagung. In einem abstrakteren Sinne ging es außerdem um die Frage, ob sich die beiden "Ismen" als Leitbegriffe für eine vergleichende Gesellschaftsgeschichte (so J. Kocka) eignen.

Der Vergleich der Geschichte der beiden Länder weckt Interesse: Auffällige Gemeinsamkeiten wie die "verspätete" Nationalstaatsbildung und die ungefähr zeitgleich auftretenden Phasen diktatorischer Regime gehen einher mit auffälligen Unterschieden hinsichtlich Tradition und Struktur des Staatsaufbaus. Im Unterschied zu Italien wurde der Einheitsstaat in Deutschland gerade durch die Beibehaltung föderaler Strukturen möglich. In Italien setzte sich bekanntlich ein an Frankreich orientierter politisch-administrativer Zentralismus durch; lokale, kommunale und regionale Strukturen, Traditionen und Identitäten stellen demgegenüber nur schwache Gegenkräfte dar.

Thema der ersten sieben Beiträge, zusammengestellt unter dem Titel "Wege zum Nationalstaat", sind die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen für die nationale Staatsbildung und der jeweils divergierende Ablauf der Prozesse selbst während des 19. Jahrhunderts. Der Schwerpunkt liegt stärker auf der Analyse bildungs-, kultur- und sozialgeschichtlicher Hintergründe denn auf der Ereignisgeschichte. Dabei wird deutlich, dass die staatliche Modernisierung und die Bildung nationaler Einheit in Deutschland tatsächlich im Spannungsfeld von Föderalismus und Zentralismus verläuft und beschrieben werden kann. Die Beiträge, die sich mit Italien befassen, stellen dem Begriff Zentralismus dagegen mehrere Begriffe gegenüber um die Entwicklung angemessen zu beschreiben zu können: Neben dem Begriff Föderalismus wird auf Termini wie Autonomismus, Lokalismus, Munizipalismus, Regionalismus und Partikularismus zurückgegriffen; zusätzlich wird der Leitbegriff Föderalismus selbst teilweise recht vage oder diffus verwendet (Meriggi etwa spricht von einem "in Italien weit verbreiteten lokalen und klientelistischen Föderalismus", S. 49). Die Vielzahl von "Ismen" irritiert den deutschen Leser, der möglicherweise aber mit dem "Föderalismus" konkretere Vorstellungen zu verbinden vermag als ein Italiener. Überzeugend werden unterschiedliche historische, kulturelle und sozialgeschichtliche Momente herausgestrichen, die in Deutschland eine föderale und in Italien eine zentralistische Staatsbildung herbeiführten, obwohl in beiden Ländern über die beiden Möglichkeiten diskutiert worden war. Für den deutschen Leser ist es interessant zu erfahren, dass die Debatte um den Föderalismus in Italien bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa bis zu dem politischen Denker Carlo Cattaneo, zurückreicht und in Wellenbewegungen immer wieder auflebte, also nicht erst in jüngster Zeit von norditalienischen Politikern revitalisiert wurde.

Gerade in Bezug auf Italien erbringt der Band jedoch noch einen weiteren und noch wichtigeren Ertrag, der sowohl im ersten wie auch im zweiten Block von Aufsätzen – diese stehen unter dem Motto "Nation, Region, Republik" – dokumentiert wird. Es ist dies die Bedeutung der Stadt und der Kommune mitsamt ihrer teils glorifizierten Geschichtstradition als identitätsstiftende Kraft. Nicht umsonst genießen Stadtfeste mancher italienischer Städte weltweiten Bekanntheitsgrad. Die erst in den 70er-Jahren geschaffenen Regionen sind im Vergleich dazu von geringer Bedeutung, ihre Untereinheiten, die Provinzen, diesbezüglich praktisch nicht relevant. (C. Ghisalberti, U. Allegretti). Ob freilich dieser Munizipalismus und Lokalismus eine Föderalisierung des italienischen Staates "von unten" zu leisten vermag, wird wohl zu recht bezweifelt – auch wenn die mehrfach erwähnte relativ junge Bewegung der Bürgermeister (einiger größerer italienischer Städte) Hoffnungen dazu nährt.

Erwartungsgemäß thematisiert die zweite Gruppe von Beiträgen, die sich mit der Geschichte im 20. Jahrhundert befasst, zunächst die Entwicklung hin zu mehr Zentralismus bzw. zu Unitarismus und extremem Nationalismus. Hier bildet besonders die Entwicklung der Weimarer Republik den spannungsreich-signifikanten Fall (K. Düwell). Die drei Beiträge, welche den Schlussbemerkungen von J. Kocka und R. Prodi vorausgehen, befassen sich schließlich mit der aktuellen Diskussion um Möglichkeiten einer Föderalisierung Italiens (J. Petersen, U. Allegretti) sowie der Rolle des Föderalismus im geteilten und dem wiedervereinten Deutschland. Die jüngste Diskussion um die Entflechtung des deutschen Föderalismus und die Neuordnung der Finanzverfassung bleibt dabei außer Betracht.

Was kann als Essenz zu den Leitbegriffen der Tagung fest gehalten werden? Zentralismus und Föderalismus, zentripetale und zentrifugale Kräfte prägen zweifelsohne vor allem die politisch-administrative Geschichte beider Länder. Besonders die mit der italienischen Geschichte befassten Beiträge zeigen jedoch, dass der Begriff Föderalismus keine gleichgewichtiges Gegenstück zu dem des Zentralismus darstellt. Wenn heute der Zentralismus als eine überholte Form der Staatsorganisation erachtet wird, kann dann – Italien betrachtet – im Föderalismus das Heilmittel liegen? Ist die deutsche Variante des Föderalismus, die auf einer Tradition von Fürstenstaatenbünden beruht und auch heute noch von den Länderregierungen dominiert ist, auf Italien übertragbar? Die Schwäche der italienischen Regionen und die Stärke der Städte und Kommunen stehen dem wohl entgegen, machen einen eigenen Weg hin zu einer vertikalen Gewaltenteilung erforderlich. Einem möglichen Föderalismus 'von unten' in Italien stehen freilich die zentralistische Tradition und das Fehlen relevanter Zwischeninstanzen entgegen; fraglich ist angesichts der politisch und kulturell doch etwas stärker fragmentierten italienischen Gesellschaft auch, ob und wie sich solche, den deutschen Bundesländern vergleichbare staatliche Einheiten aus einer Kooperation der Städte und Kommunen entwickeln ließen. Auch ist der deutsche Föderalismus mit seiner teils lähmenden Politikverflechtung wohl kein so erstrebenswertes Vorbild. Immerhin erscheint er im Lichte jüngster Reformbestrebungen doch beweglicher, als es 1995 möglicherweise noch den Anschein hatte (C. Kleßmann).

Und wie steht es um die Eignung der beiden Leitbegriffe als strukturierende Kräfte der Gesellschaftsgeschichte? Hier wird Skepsis geäußert: Beide Schlagworte seien recht unbestimmt, ihre "Ausschließungskraft" begrenzt (J. Kocka). Speziell das häufige Aufgreifen des Föderalismus-Begriffs für die italienische Geschichte – regelmäßig unter Beifügung der anderen oben genannten Ismen – suggeriert irreführender Weise, dass es einen solchen in gewissen Formen gäbe oder gab; das stimmt jedoch nur für den intellektuellen Diskurs und die aktuelle Debatte. Und in Deutschland ist der Föderalismus auch nur Sache politisch-administrativer Eliten, kaum von unten gewachsen und mit nur begrenzt identitätsstiftender Kraft. Als Analyseinstrumente erweisen sich die Begriffe somit als relativ offen; sie erlauben vielfältige Verknüpfungen, was die verschiedenen Beiträge auch zeigen. Die Ergebnisse des Bandes sind somit vielfältig und anregend, aber auch "sehr heterogen" (J. Kocka, 275).

Michael Philipp, Augsburg





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