ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael A. Kanther/Dietmar Petzina, Victor Aimé Huber (1800-1869). Sozialreformer und Wegbereiter der sozialen Wohnungswirtschaft, Duncker & Humblot, Berlin 2000, 202 S., kart., 68 DM.

Mit ihrer Biografie wollen die Autoren noch einmal "den ’ganzen Huber’, d.h. neben dem Werk auch den Menschen" (S. 22) vorstellen – ein keineswegs überflüssiges Vorhaben, nachdem die letzten umfassenden Porträts Victor Aimé Hubers mehr als ein Jahrhundert zurückliegen. Zwar ist Huber auch in vielen jüngeren Arbeiten behandelt und mit so unterschiedlichen Etiketten wie "Pionier des gemeinnützigen Wohnungswesens" oder "zeitferner Romantiker und Reaktionär" bedacht worden, aber hier wird nun versucht, die scheinbar widersprüchlichen Fassetten seiner Persönlichkeit zu analysieren und in ein Gesamtbild zu integrieren. Freilich liegen die Interessen der Autoren vor allem im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (die Studie wurde vom "GdW Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen e.V." herausgegeben wurde), sodass von Huber als Sozial- und Wohnungsreformer das deutlichste Profil entsteht. In dieser Eigenschaft ist er ja auch in der Gegenwart vornehmlich bekannt, während seine Tätigkeit als Literaturwissenschaftler und Wegbereiter für die Etablierung der Anglistik an deutschen Universitäten von den Autoren immerhin in einem kürzeren Kapitel skizziert wird.

Die Autoren haben sich keinen leichten Gegenstand gewählt, weil Huber nicht nur ein breit gestreutes, in viele kleinere Abhandlungen zerfallendes Werk (s. das Verzeichnis seiner Veröffentlichungen S. 183-189) hinterlassen hat, sondern auch im Zeitverlauf viele ursprüngliche Ansichten revidierte und zu anderen Auffassungen kam, sodass es nicht immer ganz einfach ist seine Positionen zu skizzieren. Es gelingt den Verfassern aber durch einen exakten chronologischen Umgang mit seinen Veröffentlichungen und deren Einordnung in die jeweilige politische Situation der Zeit hier für die Leser einige Klarheit zu schaffen. Ein Beispiel für diesen Wandel im Zeitverlauf ist Hubers Einstellung zum Konstitutionalismus, den er in den frühen 1820er-Jahren – auch unter dem Eindruck seiner Reisen nach Spanien und Portugal – pries, seit den 1830er-Jahren aber zu Gunsten eines "organischen" Staats- und Gesellschaftsaufbaus für entbehrlich hielt. Damit war gleichzeitig der Übergang vom liberalen zum konservativen Denker gekennzeichnet, der freilich nicht so nachhaltig ausfiel, dass Huber im Hannoverschen Verfassungsstreit von 1837 nicht mit den "Göttinger Sieben" sympathisiert hätte. Er selbst, der 1835 den angestrebten Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Göttingen nicht erhalten hatte, war zu diesem Zeitpunkt Professor für abendländische Literatur im kurhessischen Marburg. Huber konnte gleichsam noch als repräsentativ für den älteren Typ des Universalgelehrten gelten, der allerdings – so betonen die Autoren – zu seinen Lebzeiten bereits vom enger, aber gründlicher gebildeten Fachspezialisten abgelöst wurde.

Huber, aus einem weltoffenen Elternhaus stammend, in dem Vater und Mutter als Literaten und Publizisten arbeiteten, hatte seine schulische Ausbildung nach damals als modern geltenden Maßstäben in der Landeserziehungsanstalt Hofwyl im Kanton Bern erhalten. In Göttingen immatrikulierte er sich für Medizin, studierte daneben aber Sprachen und Literatur. Nach einem Doktorexamen im Fach Vergleichende Anatomie trat er 1821 seine erste große Reise nach Frankreich, Spanien und Portugal an. Das Reisen, insbesondere auch nach England, wurde für ihn zu einer wichtigen Quelle seiner Schriften und versorgte ihn für seine sozialreformerische Tätigkeit in Deutschland immer wieder mit produktiven Denkanstößen und Vergleichsbeispielen. Während er über viele Jahre als Professor für Sprachen, Literatur und Geschichte in Rostock, Marburg und seit 1843 Berlin arbeitete, blieb er publizistisch äußerst rege, sei es im Dienste des preußischen Königs (von 1845 bis 1848 mit der politischen Zeitschrift Janus) oder für die Berliner gemeinnützige Baugesellschaft mit der Zeitschrift Concordia.

Damit ist zugleich die dritte Achse seines Wirkens neben der akademischen und der schriftstellerisch-publizistischen bezeichnet: Seit 1849 in der Berliner Baugesellschaft und seit 1852 als Genossenschafter in Wernigerode (seinem Wohnsitz bis zu seinem Tod 1869) betätigte sich Huber auch als praktischer Sozialreformer - ob in der Frage bezahlbarer Wohnungen für die Arbeiterschaft oder der Ausbildung von Handwerksgesellen. Vieles von Hubers theoretischen Idealen, für die er bis in die Gegenwart bekannt geblieben ist, ließ sich allerdings nicht in die Praxis umsetzen: Eine Siedlungsgenossenschaft etwa, die gleichzeitig auch als Einkaufs- und Verbrauchsgenossenschaft fungierte, konnte er bis an sein Lebensende nicht verwirklichen. Hier war Huber offensichtlich seiner Zeit voraus: Die Kodifizierung des Genossenschaftsrechts von 1867 kam erst, als seine Kräfte schon weitgehend verbraucht waren. Die beschränkte Haftung für Genossenschafter wurde erst 1889 eingeführt, sie erleichterte schließlich die Finanzierung genossenschaftlicher Initiativen, die zu Hubers Zeit noch häufig an der Unsicherheit für Investoren scheiterten.

Hubers Misserfolge bei der praktischen Umsetzung seiner Vorstellung von "Assoziationen" (den deutschen Begriff Genossenschaft verwendete er erst seit 1857 durchgängig) erklären die Autoren aber auch überzeugend mit seiner Position als freischwebender Intellektueller, der keiner ideologischen Richtung vollends angehörte. Monarchistisch-etatistisch und von einer strengen religiös-moralischen Ethik getragen, war er den Liberalen in vielen Punkten suspekt. Auch bevorzugten sie den Selbsthilfe-Purismus von Schulze-Delitzsch‘ Genossenschaftskonzept gegenüber dem Kompromisscharakter, der etwa in Hubers "latenten Assoziationen" so augenscheinlich war: Diese Einrichtungen unter der Leitung wohlhabender Gönner sollten das genossenschaftliche Element nur durch Formen des Miteigentums, der Mitverantwortung und der Gewinnbeteiligung realisieren. Den Konservativen andererseits galt Huber nicht selten als idealistischer Exot, der sozialrevolutionären Ideen anhing.

Die Autoren schaffen es die Paradoxien und Widersprüchlichkeiten in der Persönlichkeit und im Werk Hubers treffend herauszuarbeiten und sie bemühen sich erfolgreich um eine Entideologisierung des bisher gezeichneten Huber-Bildes. Vielleicht hätte ihre eigene Zeichnung gelegentlich noch schärfer profiliert werden können, wenn sie die geistig-politischen Auseinandersetzungen der Epoche und Hubers Teilnahme daran eingehender geschildert hätten. Der Streit mit Schulze-Delitzsch etwa wird nur knapp behandelt, die Anfänge des Genossenschaftswesens überhaupt (über die Person Hubers hinaus) werden nur gestreift, auch die Verortung Hubers in der sich formierenden konservativen Partei bleibt zu blass. Hier macht sich auch bemerkbar, dass einige wichtige Literatur der letzten Jahre nicht ausgewertet wurde; hingewiesen sei nur auf Konservativismus-Forschungen wie Hermann Becks Buch über die preußischen Konservativen und die soziale Frage (1995) oder die Pionierstudie von Michael Prinz zu den Konsumvereinen in Deutschland und England (1996). Andererseits ist die konzise Darstellungsweise, die auf Ausschweifungen und Umwege verzichtet, auch ein Vorzug dieses Werkes, das es auf nur 200 Seiten vermag einer schillernden Persönlichkeit wie Huber gerecht zu werden.

Ulrike Haerendel, München





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