ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Francis Wheen, Karl Marx. Aus dem Englischen übertragen von Helmut Ettinger, C. Bertelsmann Verlag, München 2001 (engl. Original London 1999), 511 S., geb., 48 DM.

"Kann man heute Karl Marx als den guten Sozialdemokraten schildern und an seiner Seite stehn?", schrieb im Dezember 1955 Otto Maenchen-Helfen an Boris Nikolaevskij. Beide hatten 1935/36 gemeinsam eine Marx-Biografie geschrieben, die 1937 zunächst in französischer und dann in mehreren anderen Sprachen erschienen war. 1955 planten Nikolaevskij und der Verlag J.H.W. Dietz Nachf. eine Herausgabe des deutschen Originals. Beide Autoren lebten inzwischen in den USA. Der Österreicher Maenchen-Helfen war als Mongolenforscher bekannt geworden, der russische Sozialdemokrat Nikolaevskij als "Archivar der sozialistischen Bewegung". Maenchen-Helfen 1955 weiter: "Um eine Biografie zu schreiben muss man sich bis zu einem gewissen Grad mit seinem Helden identifzieren. Wir wollen uns nicht täuschen: Unser Marx ist ein genialer Karl Kautsky, ein anständiger Menschewik. Aber die Weltgeschichte ist über die Sozialdemokratie hinweggegangen. Die kommende Planwirtschaft – wenn sie kommt – wird anti-individualistisch, anti-liberal, und recht unmenschlich sein. Um es mit einem Wort zu sagen: Eine kommunistische Biografie von Marx muss eine Lüge sein, eine sozialdemokratische, wie die unsrige, ist von der Geschichte unserer Zeit überholt. Und um noch etwas ganz Persönliches hinzuzufügen: Ich habe nur noch ein sehr geringes Interesse an Marx. Seine Kämpfe mit Bakunin lassen mich kalt. Die Geschichte der Ersten Internationale und Marxens Rolle in ihr kommt mir heute recht unwichtig vor. Gewiss habe ich mich geändert, aber schließlich habe ich zu meiner Entschuldigung, wenn ich eine brauche, zu sagen, dass nach dem Erlebnis Hitler, Stalin und der Hydrogen-Bombe kein denkender Mensch derselbe bleiben konnte." Auch wenn sich Nikolaevskij damals von diesen Einwänden nicht beeindrucken ließ - er ergänzte einige Details und änderte die Grundlinie des Buches nicht, - die Fragen Maenchen-Helfens waren und sind keineswegs erledigt und stellen sich nach dem Zusammenbruch des "Realsozialismus" wiederum neu.

Der durch seine Kolumnen im Guardian bekannte englische Publizist Francis Wheen hat in seiner Marx-Biografie, die nach ihrem Erscheinen 1999 in Großbritannien viel Beachtung gefunden hat und nun in einer guten deutschen Übersetzung vorliegt, eine mögliche Antwort vorgelegt. Er will zeigen, "dass nämlich dieser von Mythen umwobene Moloch und Heilige ein zutiefst menschliches Wesen war" (S. 14). Diese "offenbarste und aufregendste aller seiner Eigenschaften" habe bisher niemand hören wollen, weder Verehrer noch Feinde. Auch wenn Wheen damit nicht ganz Recht hat, erinnert sei nur an die vorzügliche Biografie David McLellans von 1973 oder Arnold Künzlis "Psychographie" von 1966, gelingt es Wheen, Marx als Menschen zu zeigen und ein anderes Licht auf dessen Biografie zu werfen. Wheen erzählt die Lebensgeschichte von Marx unspektakulär, aber unterhaltsam und fesselnd. Er hat, wie bereits britische Rezensenten hervorhoben, Marx wieder für das Genre der Biografie entdeckt.

Wheen zeigt Marx als Mann des 19. Jahrhunderts, der - nicht nur aus Rücksicht auf seine drei Töchter - großen Wert auf bürgerliche Wohlanständigkeit legte und auch immer wieder bereit war, zumindest kündigte er dies an, seine männliche Ehre in Duellen zu verteidigen. Als Student scheint er auch tatsächlich einige Duelle ausgefochten zu haben, was seinen Vater zu der Frage verleitete: "Und ist denn Duelliren so sehr mit der Philosophie verwebt?" (Mai-Juni 1836). Zugleich aber stellt Wheen Marx als überzeugten Anwalt der Sache des Proletariats und als gewissenhaften, um Perfektion bemühten Wissenschaftler heraus, was bereits Iring Fetscher in der Frankfurter Rundschau vom 26. März 2001 lakonisch lobte. Positiv an Wheens Lebensbeschreibung ist vor allem, dass sie Marx nicht eingeschränkt nur als Theoretiker der Arbeiterrevolution oder als politischen Ökonom schildert, sondern in seiner schillernden Vielfalt.

Seine Darstellung entfaltet Wheen entlang der Lebensstationen von Marx. Bekanntlich sollte Marx, 1818 in Trier, einer kleinen Bezirksstadt am westlichen Rand der preußischen Monarchie, geboren und dort aufgewachsen, Rechtsanwalt werden - wie sein aus einer jüdischen Rabbinerfamilie stammender Vater. Zum Studium ging er deshalb 1835 zunächst nach Bonn und dann nach Berlin, wo er rasch andere Neigungen entwickelte. Zunächst wollte er, wie viele junge Männer damals, Dichter werden. Schon bald, im Sommer 1837 vor den Toren Berlins, nahm er Abschied von der Romantik und wurde Hegelianer. Da ihm eine Universitätskarriere in Bonn versperrt blieb, ging er 1842/43 als Zeitungsredakteur nach Köln. Mit 27 Jahren warf er der preußischen Monarchie die Staatszugehörigkeit vor die Füße, wanderte nach Paris und dann nach Belgien aus, wo er das "Manifest der Kommunistischen Partei" schrieb. In der Revolution von 1848 wirkte er erneut als Zeitungsherausgeber in Köln, nun aber als radikaler Demokrat und Kommunist. Nach der gescheiterten Revolution musste er sich nach London zurückziehen, wo er als Staatenloser bis zu seinem Tode 1883 lebte. Hier schrieb er das "Kapital", seine berühmte Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus und wurde Chef der Ersten Arbeiterinternationale. Seinen Lebensunterhalt bestritt Marx mehr schlecht als recht als Journalist und Publizist. Friedrich Engels, der ihn zeit seines Lebens finanziell unterstützte, ermöglichte ihm schließlich das Leben eines politisch engagierten Privatgelehrten zu führen.

Wheen nimmt Marx in allen seinen Fassetten ernst und zeigt ihn als bürgerlichen Privatmann, als humorvollen Unterhalter, als scharfen Polemiker, als Literaturkenner und Spracheninteressierten, als revolutionären Arbeiterpolitiker und als politischen Ökonom. Er stellt Marx’ journalistische Tätigkeit heraus, die bisher meist nur am Rande und mit entschuldigendem Unterton gewürdigt wurde. Wheen ist der Meinung, dass Marx sich als "kritischer Journalist mit der schärfsten Feder des Jahrhunderts" einen Namen hätte machen können (S. 226). Viele seiner "journalistischen Kabinettstückchen" verdienten "in ein Zitatenlexikon Eingang" zu finden (S. 225). Als Wissenschaftler waren Marx’ Interessenfelder breit gefächert und reichten von der Soziologie, Philosophie und Ökonomie bis zur Chemie, Physik, Geologie und nicht zuletzt Literatur. Und auch die peinliche Partnerschaft mit dem romantischen Reaktionär und schottischen Aristokraten David Urquhart, dessen leidenschaftliche Parteinahme gegen Russland Marx teilte, übergeht Wheen nicht. Er charakterisiert Marx als einen Schachspieler, der zwar ein brillanter Stratege gewesen sei, aber ein schwacher Taktiker.

Es ist eine sehr britische Biografie. Der europäische Kontinent und seine Verwicklungen spielen kaum eine Rolle. Marx blieb aber von seinen kontinentalen Erfahrungen geprägt, worauf zuletzt Richard Biernacki ("The Fabrication of Labor. Germany and Britain, 1640-1914", 1995) sehr nachdrücklich hingewiesen hat. Sozialismus als Erscheinung und Antwort des 19. Jahrhunderts auf die Herausforderungen der Fabrikindustrialisierung ist Wheen keine Erklärung wert. Hier ist auch nicht der Raum, um die Darstellungen zurechtzurücken, die Wheen von Wilhelm Weitling, Michael Bakunin, Victoria Woodhull, Karl Grün oder Gottfried Kinkel, prominente sozialistische Konkurrenten von Marx, gibt. Zu Recht weist Wheen zwar darauf hin, dass Marx’ vulkanische Zornesausbrüche gegen seine politischen Konkurrenten die gleiche Leidenschaft offenbarten, mit der Marx den Kapitalismus und dessen Widersprüche geißelte. Trotzdem sind diese Konkurrenten deshalb keineswegs "obskure Abweichler oder Dummköpfe" (S. 205). Allzu blauäugig nimmt Wheen die Anekdoten und Schilderungen von Marx und Engels in deren intensivem Briefwechsel für bare Münze.

Wheens Biografie ist ein Beispiel dafür, wie sich neue interessante Zugriffe auf Werk und Person von Karl Marx eröffnen lassen, ohne dass man sich gegen Marx oder "an seine Seite" (Otto Maenchen-Helfen) stellen muss. Marx ist Geschichte. Gegen die fortwirkende Dominanz der Orthodoxien, ob sie nun pro- oder antimarxistischen Ursprungs sind, lassen sich - wie die Biografie Wheens demonstriert - neue Zugriffe auf Werk und Leben von Marx eröffnen, indem man Vielfalt und Ambivalenz im Denken und Handeln von Marx auslotet. Eine solche Anstrengung wird zusätzlich unterstützt durch die Öffnung der Archive in Moskau, in denen es noch viel zu entdecken gibt. Dadurch wurden ein weiteres Drittel des Originalnachlasses und vor allem Kopien des gesamten Nachlasses (zum großen Teil vor dem Zweiten Weltkrieg angefertigt) zugänglich.

Auf einige sachliche Fehler sei zum Schluss noch hingewiesen, die aber insgesamt der Biografie keinen Abbruch tun. Die alte Trierer Synagoge, in der Marx’ Vorfahren Gottesdienste leiteten, stand nicht an der von Wheen bezeichneten Stelle und war nicht identisch mit der von den Nationalsozialisten 1938 zerstörten (S. 24). Leider erzählt Wheen auch die Geschichte des angeblichen Besuchs Bettina von Arnims in Trier (S. 67). Wenn sie und Marx überhaupt zusammentrafen, so kann dies höchstens im Oktober 1842 in Bad Kreuznach gewesen sein, wofür auch die Angabe "Rheingrafenstein" in der zitierten Textstelle ein Hinweis hätte sein können. Auch die bereits von Marx und Engels kolportierte Geschichte, Alexander von Humboldt habe im Frühjahr 1845 dazu beigetragen, dass Marx aus Frankreich ausgewiesen wurde, trifft nicht zu (S. 112). Marx hatte bekanntlich mit der langjährigen Haushälterin der Familie, Helene Demuth, einen Sohn, Frederick, gezeugt, dessen Identität allseits verschwiegen wurde. Familie und Sozialdemokratie waren auch später darauf bedacht, Marx’ Vaterschaft nicht öffentlich werden zu lassen. Wheen hätte darauf verzichten können, noch einmal auf die längliche Debatte einzugehen, die sich über das 1962 bekannt gewordene Brieffragment von Louise Freyberger-Kautsky vom 2./4. September 1898 an August Bebel, das nur in einer unbeglaubigten Schreibmaschinenabschrift erhalten ist, entsponnen hatte (S. 209f.). Seit Öffnung der russischen Archive kann kein Zweifel mehr an Marx’ Vaterschaft bestehen, insbesondere nachdem Valerij Fomisev die entsprechenden Dokumente im Stalin-Fonds des ehemaligen Parteiarchivs der KPdSU 1991 entdeckt und 1992 veröffentlicht hatte (vgl. Heinrich Gemkow und Rolf Hecker, Unbekannte Dokumente über Marx’ Sohn Frederick Demuth, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 4/1994, S. 43-59).

Jürgen Herres, Berlin





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