ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Flurin Condrau, Lungenheilanstalt und Patientenschicksal. Sozialgeschichte der Tuberkulose in Deutschland und England im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (=Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 137), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 200, 363 S., 58 Tabellen, 44 Abb., brosch., 78 DM.

Die Lungentuberkulose war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert die epidemiologisch bedeutendste Todesursache im Erwachsenenalter: Um die Wende zum 20. Jahrhundert waren 30-40% aller Sterbefälle des jungen und mittleren Erwachsenenalters auf sie zurückzuführen. Im Erkrankungsfall brachte sie den Betroffenen und ihren Familien häufig sozialen Abstieg und materielle Not. Tuberkulose wurde zu einer skandalisierten Krankheit, deren gesellschaftliche Bedeutung weit über den epidemiologischen Befund hinausging. Seit der Entdeckung des Themenkomplexes "Krankheit und Gesundheit" durch die Geschichtswissenschaft nimmt es deshalb nicht wunder, dass sich mittlerweile zahlreiche historische Arbeiten mit dieser bedeutsamen Seuche beschäftigen. Dabei dient die Tuberkulose als Maß für soziale Ungleichheit (Stichwort "Proletarierkrankheit") oder als Indikator vergangener Gesundheitsverhältnisse. Flurin Condrau nimmt sich in seiner Dissertation nun des Themas unter dem Aspekt der Tuberkulosebekämpfung in Deutschland und England an. Neben knappen Ausführungen zur historischen Epidemiologie der Tuberkulose und zu medizinischen Diskursen über die Heilbehandlung stehen die Sozialpolitik und Institutionalisierung der Tuberkulosebekämpfung sowie die Patienten ausgewählter Lungenheilanstalten in England und Deutschland im Mittelpunkt der Analyse.

In beiden Ländern wurde die Tuberkulose im späten 19. Jahrhundert zum politischen Problem, das kommunale Fürsorge, Krankenhausentwicklung sowie die staatliche Sozialpolitik erfasste. Obwohl seit den 1890er-Jahren in beiden Ländern die anstaltsförmige Therapie forciert wurde, waren Motive und Lösungsstrategien unterschiedlich. Während in Deutschland versucht wurde mit einer Behandlung den Zeitpunkt der Verrentung hinauszuschieben und so die Rentenkassen zu entlasten – die Krankheit, wie Condrau sich ausdrückt, ökonomisiert wurde -, verstand sich die Bekämpfung der Tuberkulose in England als nationale Aufgabe, deren Finanzierung es sicherzustellen galt. Längerfristig führte dies in England zur Kommunalisierung der Tuberkulosebekämpfung und bereitete den nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführten National Health Service vor, in Deutschland dagegen blieb der Einfluss der Sozialversicherungen eher beschränkt. Konsequenterweise schätzt Condrau die englische Organisation der Tuberkulosebekämpfung als effizienter ein. Ähnlich starke Unterschiede bestanden in der Ausgestaltung der Therapie. So bevorzugten deutsche Ärzte die Frischluft-Liegekur, englische Ärzte hielten sich in Anlehnung an die Tradition der "Workhouses" eher an die Arbeitstherapie. Dabei unterschieden sich nicht nur die Behandlungskonzepte, sondern auch der ärztliche Status: War der englische Arzt de facto ein einfacher kommunaler Beamter, galt die Leitung einer Heilstätte in Deutschland als angesehene Position, oftmals als Höhepunkt der beruflichen Karriere. Auf Grund mangelnder Heilerfolge standen dabei oftmals hygienische Erziehung und – in Deutschland – die soziale Integration der Arbeiterschaft im Vordergrund, während die Heilanstalten in England angesichts ihrer starken Anlehnung an die Tradition des Poor Law extrem unbeliebt waren.

Die wichtige Frage nach dem Charakter der Lungenheilanstalten versucht Condrau durch eine quantitative Analyse der Patientenstruktur ausgewählter deutscher und englischer Heilanstalten zu beantworten. Dabei gelingt es dem Autor einige tradierte Forschungsthesen zu widerlegen. So handelte es sich bei den Patienten keineswegs um eine sozial homogene Gruppe, deren ungewisses Schicksal sie für lange Zeit zusammenschmiedete. Im Gegenteil, in den Anstalten herrschte ein stetiges Kommen und Gehen, wobei die Patienten in England im Allgemeinen länger blieben als die versicherungspolitischen Zwängen ausgesetzten deutschen Patienten mit einer durchschnittlichen Verweildauer von drei Monaten. Entsprechend vielfältig waren die Behandlungserfahrungen der Patienten. Medizinische Aktivitäten und rehabilitative Maßnahmen strukturierten den Alltag, wobei den Patienten der Unterschichten bislang nicht gekannte hygienische Standards vermittelt wurden. Der Heilungsbegriff war geprägt von der Wiederherstellung der Gesundheit bis zum Zeitpunkt der Entlassung, er versprach keine dauerhafte klinische Heilung: Entsprechend verstarben 30-50% aller Behandelten innerhalb der ersten fünf Jahre nach Beendigung des Kuraufenthalts, für die anderen gestaltete sich insbesondere die berufliche Eingliederung als außerordentlich schwierig, oftmals sogar als unmöglich.

Krankheiten machen nicht nur Geschichte, sie haben auch Geschichte und Condrau zeigt am Beispiel der Tuberkulosebekämpfung das Potenzial, das eine moderne Sozialgeschichte in dieser Hinsicht bietet. Auch wenn eine ausführlichere epidemiologische Analyse mit einem Hinweis auf die unterschiedliche Stellung der Tuberkulose im Todesursachenpanorama der verglichenen Länder mancherlei Erklärungsdefizite hätte beseitigen können, so liegt mit dieser auf einer Fülle von qualitativem und quantitativem Material basierenden Arbeit ein fundierter systematischer Vergleich der Tuberkosebekämpfung in Deutschland und England vor, der gleichzeitig allgemeine Einblicke in das Sozialsystem beider Länder bietet. Die Arbeit argumentiert umsichtig und klug und ist derzeit sicherlich die beste deutschsprachige Sozialgeschichte zur Bekämpfung der Tuberkulose im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Jörg Vögele, Düsseldorf





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