ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Roman Szporluk, Russia, Ukraine, and the Breakup of the Soviet Union, Hoover Institution Press, Stanford CA 2000, 437 S., brosch., 24,95 $.

Eine festschriftartige Zusammenstellung früherer Aufsätze zur neuesten Geschichte der Post-Sowjetunion könnte leicht peinlich wirken. Die Entwicklungen in der GUS waren für viele unerwartet und dementsprechend gingen Einschätzungen (geschweige denn Prognosen, die ja aus gutem Grund nicht zu den Aufgaben von Historikern gehören) oft daneben. Nicht so bei dem Historiker und Politikwissenschaftler Roman Szporluk: Mit seiner Vita, die aus Polen über Stanford schließlich auf den renommierten Posten des Leiters des Ukrainian Research Institute in Harvard geführt hat, ließ sich Szporluk, der auch über Masaryk und die Politische Ökonomie des 19. Jahrhunderts publiziert hat, nicht darin beirren, in dem Zusammenschluss von Baltikum, Weißrussland und der Westukraine einerseits mit Russland andererseits durch die Sowjetunion das Hauptproblem der UdSSR zu sehen, da er erstere Territorien (wie selbstverständlich das Glacis von 1945) zu "Europa", Russland jedoch nur mit Vorbehalt dazu zählte.

Mit dem Vf. zuvorderst in der Ukraine den Motor des sowjetischen Zusammenbruchs zu sehen, mag verstören. Da Szporluk auf dieses Land und vor allem seine "westlichen" Komponenten fixiert ist, mag man diese etwas einseitige Optik jedoch hinnehmen, die fast alle zwischen 1972 und 1997 zumeist in politologischen Zeitschriften und Sammelbänden erstveröffentlichten Beiträge durchzieht.

Dennoch sind Szporluks Erkenntnisse im allgemeinen treffend, auch wenn der Rezensent eher ihre symptomatische als eine kausale Funktion zu erkennen meint. Einige von ihnen frappieren noch heute. In den 1970ern widersetzte der Verfasser sich dem unter Politologen verbreiteten, nicht zuletzt auch von Zygmunt Brzezinski vertretenen Modernisierungsdiskurs, dessen Teilnehmer eine (Re-)Ethnisierung der sowjetischen technischen Eliten für undenkbar hielten. Szporluk hielt dagegen schon damals die sowjetische Sprachenpolitik für verfehlt oder wenigstens für verspätet, das Konzept des "sovetskij narod" von Anfang an für misslungen (S. 56). Dialektisch erblickte er sodann im "greatest triumph" der Sowjetunion, der Hegemonie über halb Europa 1945, die Aussaat des "decline": Der "sowjetische Westen" galt ihm 1979 als "alien and potentially disruptive element" (S. XXVI). Mit einer Untersuchung zur Urbanisierung der Ukraine verwahrte sich Szporluk am deutlichsten gegen orthodoxe "Modernisierungstheoretiker". Zwar gestand er 1981 zu, dass in der Ostukraine die Urbanisierung russifizierende Effekte hatte, jedoch habe sich dort keineswegs russischer Nationalismus, sondern eine eher indifferente Haltung ausgebildet, während der Westen der Ukraine nach 1945 erstmals entgegen der politischen Absicht ukrainisch urbanisiert worden sei und damit Szporluks Paradestück in der politologischen Schlacht um den Erfolg des sowjetischen Konzept abgibt. Ziemlich ähnlich verwegen schienen zunächst auch Szporluks Thesen zur kulturellen Lage der neuen GUS-Staaten zu sein: Während Anfang der 1990er Jahre die Sprachenpolitik der ukrainischen Krawtschuk-Regierung im In- und Ausland diskutiert wurde, erklärte Szporluk sie zu einer Randerscheinung. Ähnlich wie Lypyns’kyj, der neuentdeckte "Klassiker" des ukrainischen Staatsgedankens der frühen 1920er Jahre, hielt er die Sprache für ein Symbol, "not the real issue" (S. 340), bei der Ausbildung einer sich politisch und ökonomisch konsolidierenden neuen Ukraine. Die Entwicklung sollte ihm dabei bald recht geben.

Die jüngsten Beiträge des Sammelbandes handeln davon, dass die Ausbildung der Einzelstaaten das russländische Imperium abgelöst habe, welches nicht so sehr ein einheimisches Projekt gewesen sei, wie der Versuch, den europäischen Westen mit unzulänglichen Mitteln zu imitieren. Dabei sei einerseits der Versuch der sekundären Isolierung von Europa verfehlt gewesen, andererseits stelle sich nun erst verstärkt für Russland – das sich selber erst von seinem eigenen Imperium emanzipieren musste – die Frage nach einer eigenen nicht-imperialen Qualität.

Diese Qualität sieht Szporluk als erhofftes Ergebnis einer politischen Sinnsuche, was die Sozialisierung des Wissenschaftlers in der polnischen wie einem Teil der amerikanischen Wissenschaft verrät. Unter Ablehnung von politischem Voluntarismus vertritt er eine sehr statische Sicht von Politik, die ähnlich auch die festgefügten Kulturblöcke Huntingtons bestimmt. Dabei ist Szporluk jedoch dessen Determinismus fremd: In einem Beitrag von 1991, in dem er die Essenz Ostmitteleuropas diskutiert ("The Soviet West or Far Eastern Europe?") verkneift er sich eine eindeutige Antwort. Die beliebte Sicht eines Russland zwischen Europa und Asien, zwischen Veränderung und Beharren, sieht er zwar partiell bestätigt, aber er verweigert sich der sich aufdrängenden Simplifizierung und beendet diesen Beitrag mit einem Plädoyer gegen die vor allem in der amerikanischen Wissenschaft verbreitete (und von einigen unkritischen Adepten in Deutschland kürzlich als große "Neuheit" entdeckte) "rigide und mechanische" Trennung zwischen "Osteuropa" und "Russia/USSR". Statt dessen plädiert er dafür, Russland "into a common framework of East European and European studies" zurückzubringen (S. 273).

Szporluk ist sicher einer der originellsten Wissenschaftler, die in den letzten Jahrzehnten versucht haben, mit osteuropäischen Phänomenen fertigzuwerden. Dadurch wurde der Sammelband, in dem er seinen Weg durch die letzten Jahrzehnte ("a record of one scholar’s efforts", S. XX) nachzeichnet, eine interessante Lektüre.

Frank Golczewski, Hamburg





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