ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jan Foitzik (Hrsg.), Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2001, 393 S., kart., 98 DM.

Wie bei allen zeitgeschichtlichen Untersuchungen zu den kommunistischen Staaten und Gesellschaften beginnt hier die quellengestützte Forschung erst seit dem großen Umbruch 1989/90, die auch die besten früheren Arbeiten westlicher Historiker und kommunistischer Dissidenten und Emigranten zu Vorarbeiten werden lassen. Der vorliegende Band kann sich auf 22 Archive in Polen, Tschechien, Slowenien, Ungarn, Russland und (eher am Rande) Deutschland stützen und wurde verfasst von 15 Autoren dieser Länder, die insgesamt 13 Aufsätze vorlegen. Eine besondere Note kommt hinein, dass unter diesen Autoren auch 4 Militärhistoriker sind, die zu den Vorgängen in Polen und Ungarn und an der tschechoslowakisch-ungarischen Grenze 1956 sehr detailliertes Material beisteuern.

Grob gegliedert sieht der Band so aus: die Einleitung des Herausgebers mit dem Blick auf alle vier Staaten, zwei Aufsätze zum "Neuen Kurs" in Ungarn (G. T. Varga) und in der DDR (B. Ciesla), zwei zu den politischen Veränderungen in Polen (P. Machcewicz) und Ungarn (I. Vida), zwei zu politischen Ereignissen in der CSR (J. Madry) und in der DDR (St. Wolle), je ein Aufsatz zur Rolle und Haltung der polnischen (L. Pajórek), ungarischen (M. Horváth) und tschechoslowakischen Armee (J. Staigl) – es fehlt bedauerlicherweise ein vermutlich wichtigerer zur sowjetischen Armee -, schließlich noch ein, bedingt durch die Zurückhaltung der russischen Archive etwas magerer Aufsatz "Die polnische Krise 1956 aus Moskauer Sicht" (A. M. Orechow) und acht wichtige Dokumente (und ein weniger wichtiges) aus dem Archiv des ZK der KPdSU über die Arbeit des KGB während des ungarischen Aufstandes, die - mit den ironischen Worten der Autoren (J. D. Orechowa, W. D. Sereda) – zugleich einen Beitrag zur Evolution der Kadar-Regierung leisten.

Soviel als ersten Überblick. Was man in dem Buch nicht suchen darf, sind farbige Schilderungen der Kämpfe in Posen (28. Juni 1956) und in Budapest, etwa als Ergänzung zu den bereits bekannten oder weniger bekannten Augenzeugenberichten und Darstellungen (von den in den Literaturhinweisen aufgezählten deutschsprachigen Veröffentlichungen zu den ungarischen Ereignissen von 1956 sind bereits 12 Bücher vor 1989 erschienen!). Was das Buch dagegen bringt, sind die wichtigsten politischen Entscheidungen – und die kamen, wie bekannt, auf sowjetischen Druck, auf deren "Anweisungen" oder "Empfehlungen" oder "Ersuchen" zustande, und das ist eigentlich auch die Hauptaussage des Buches: dass es nur zwei Gründe für das Handeln der ostmitteleuropäischen KP-Führungen gab: Anweisungen aus Moskau – nicht umsonst ist N. S. Chruschtschow im Personenregister der am häufigsten genannte Name – oder Druck von unten. Nur eine bedeutende Ausnahme findet sich (aber auch hier, nach anfänglichem Widerstand, mit Billigung Chruschtschows): die Wahl von Gomulka zum Ersten Sekretär der PVAP auf dem 8. Plenum der Partei (21. Oktober 1956).

Das Buch zeigt noch einmal im Detail Gemeinsamkeiten und Differenzen in den vier hier beschriebenen kommunistisch regierten Staaten. Gemeinsam ist ihnen, wie die stalinistischen Führungen diktatorisch nach Innen die Macht ausübten und außenpolitisch und militärisch sklavisch von der Sowjetunion abhingen, der es als natürliches Recht galt, in die innere Entwicklung der sozialistischen Staaten nach Belieben einzugreifen. Gemeinsam auch die ökonomische Entwicklung in den frühen fünfziger Jahren: die Forcierung der Schwerindustrie und Rüstung, verbunden mit einem niedrigen Lebensstandard der Bevölkerung, die Kollektivierung der Landwirtschaft mit zwangsläufigen agrarischen Rückschlägen, die Rettungsversuche durch einen (auch von Moskau verordneten) "Neuen Kurs" zwischen 1953 und 1955. Die Unterschiede in diesen Staaten beruhten nicht zuletzt in den differenzierten Interessen wiederum der Sowjetunion an den einzelnen Satelliten, resultierten aber auch aus der unterschiedlichen Weise, wie die Kommunisten dort an die Macht kamen, welche nationalen Probleme gelöst oder nicht gelöst waren, welche Rolle in den Krisen die Intelligenz - besonders die Studenten und Schriftsteller - übernahm (dagegen scheint der prozentuale Anteil der Kommunisten an der Bevölkerung wenig beizutragen: es sind in Polen 5%, in der DDR 6%, in Ungarn 10 %, in der CSR 12%).

Gravierender scheint es, dass es in der CSR und in der DDR in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre gelang, den Lebensstandard der Bevölkerung nennenswert zu steigern (auch mit kräftiger Hilfe aus der Sowjetunion und zulasten der dortigen Bevölkerung), wogegen dies in Polen und in Ungarn nicht erreicht wurde, wodurch die soziale Krise allmählich in eine politische überging.

Aus dem Rahmen dieser Systementwicklung fällt allein Polen: Hier gab es die historisch bedingten stärksten antirussischen und antisowjetischen Einstellungen (Feldzug der Roten Armee bis vor Warschau 1920, Liquidierung der polnischen KP-Führung 1937 in Moskau, Teilung Polens zwischen SU und Hitlerdeutschland 1939, Verschleppung großer Teile der polnischen Intelligenz und des Klerus, Katyn, Rolle der Sowjetarmee beim Warschauer Aufstand, Gebietsabtretungen) und die stärksten sowjetischen Demütigungen bis hin zur Besetzung des Verteidigungsministers mit einem sowjetischen Marschall und von 90 % der Generalsränge der Polnischen Armee mit Russen. Polen wartete nicht erst bis zum XX. Parteitag der KPdSU, vielmehr begannen hier schon im Herbst 1954 die öffentlichen Diskussionen über den Stalinismus, die zu einer Art "Explosion des kollektiven Gedächtnisses" führten (S. 145). Die damit seit dem Frühjahr 1956 einsetzende Destabilisierung des gesamten politischen Systems führte dann über die Zwischenstationen Posener Aufstand – von Pawel Machcewicz knapp, genau und eindringlich dargestellt – und die "Oktoberereignisse" zu einer wirklichen, wenn auch nicht vollständig durchzuhaltenden politischen Wende, die Polen neben Ungarn schließlich zum Motor des 1989 einsetzenden Zusammenbruchs des Staatsozialismus machte.

Polen erbrachte 1956 mindestens drei Leistungen zur Überwindung des Stalinismus: die Veröffentlichung der "Geheimrede" Chruschtschows (vermutlich auch für den Westen) und die daraus resultierende politische Klärung in der Gesellschaft, die Wahl Gomulkas zum Parteichef und die damit verbundene nationale Festigung und auf geistigem Gebiet die Überwindung der bisherigen Monopolstellung des Marxismus.

Über die Ereignisse in Ungarn (mit vier Beiträgen im Band) sind wir insgesamt wohl besser informiert, das zeigt etwa auch der im Literaturverzeichnis (S. 379-386) ausgewiesene Forschungs- und Darstellungsstand. Hierzu bleiben aber auch nach wie vor wesentliche Fragen offen wie die Gründe für die Entscheidung Moskaus, nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen am 30. Oktober und der beruhigenden Deklaration über die Beziehungen der Sowjetunion zu den sozialistischen Staaten vom selben Tage, am 4. November die zweite Intervention zu beginnen, oder die Gründe, die Kadar zum sowjetischen Überläufer machten.

Was der Band in jedem Falle leistet, sind weitere Informationen über das innerparteiliche Geschehen (mit Ausnahme der DDR), die Vertiefung bestimmter Kausalitäten in den Entscheidungen, Angaben über die Stärke der polnischen, tschechoslowakischen und ungarischen Armeen und des polnischen Sicherheitsapparates, viele Einzelheiten über die militärischen Kräfte (in bezug auf die tschechoslowakisch-ungarische Grenze allerdings ermüdend detailliert) und deren Verluste in den Kampfhandlungen, die Tätigkeit Mikojans und Suslows während der ungarischen Krise und des KGB während des Volksaufstandes. Man kann alle geschilderten Ereignisse mit einigem Recht als "Entstalinisierungskrise" bezeichnen, wenn auch klar ist, dass ab 1957/58 in den genannten Ländern in verschiedener Stärke eine Re-Stalinisierung und unter Breschnew auch eine erweiterte Unterordnung unter sowjetische Interessen erfolgte. Im Vergleich wird schließlich erst deutlich, wie gering die Entstalinisierung in der DDR gewesen ist. Zu deren Krise 1956-58 hofft der Rezensent im nächsten Jahr eine detaillierte Arbeit vorlegen zu können.



Guntolf Herzberg, Berlin





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