ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Eva Donga-Sylvester, Günter Czernetzky, Hildegard Toma (Hrsg.), "Ihr verreckt hier bei ehrlicher Arbeit!". Deutsche im GULag 1936 – 1956. Anthologie des Erinnerns, Leopold Stocker Verlag, Graz-Stuttgart 2000, 367 S., geb., 49,80 DM.

Bei der Erforschung der Geschichte des Systems der Besserungs-Arbeitslager (ITL), des sogenannten GULag, in der Sowjetunion spielten autobiographische Dokumente von Anfang an eine herausragende Rolle. Da ein Zugang zu den schriftlichen Quellen in der UdSSR nicht möglich war, blieb nur diese Form der Überlieferung, um Aufschluss über die Struktur des Lagersystems und das Schicksal seiner Insassen zu gewinnen. So war bis zur Perestrojka mit ihrer zunächst großzügigen Öffnung der Archive eine reichhaltige Erinnerungsliteratur vor allem auch im deutschsprachigen Raum entstanden. Erst seit Anfang der neunziger Jahre entstand dann die Möglichkeit die subjektiven Aufzeichnungen der Betroffenen mit der Hinterlassenschaft der Täter abzugleichen, um Einsichten in Motive und Vorstellungen der Handelnden zu erhalten.

Das Buch versteht sich als "Anthologie des Erinnerns", möchte also keinen Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung des GULag-Systems leisten, sondern das Schicksal der Betroffenen im Bewusstsein halten, wie auch aus den Vorsprüchen von Alexander Solschenizyn und Elie Wiesel hervorgeht. Folgerichtig wird denn auch auf eine Kontrastierung der Erinnerungsberichte mit der archivalischen Überlieferung verzichtet, etwa wenn auf eine Todesrate von "8,92 %" unter den deutschen Häftlingen unter Berufung auf "Angaben der ,Spätheimkehrer'" verwiesen wird (S. 13), ohne auf den inzwischen sehr differenzierten Forschungsstand zu diesem Thema einzugehen. Dies liegt auch daran, dass ausweislich des Literaturverzeichnisses bis auf eine Ausnahme lediglich deutschsprachige, in der Regel ältere Literatur verwandt wurde. Neuere Veröffentlichungen im angelsächsischen oder russischsprachigen Raum bleiben dagegen unbeachtet. Die abgedruckten Archivdokumente dienen dabei der Illustration der Augenzeugenberichte oder der grundlegenden Information über Struktur und Verwaltung des sowjetischen Lagersystems.

Die 50 Überlebenden, deren Erinnerungen hier versammelt sind, allesamt Deutsche nach Art. 116 des Grundgesetzes, lassen sich in vier Gruppen aufteilen (12). Personen, die zwischen 1936 und 1955 in der Sowjetunion verhaftet wurden, Kriegsgefangene, die wegen realer oder angeblicher Vergehen zu Lagerhaft verurteilt wurden, Personen, die nach 1945 in der SBZ bzw. DDR verhaftet worden sind, und Deutsche aus den von der Sowjetunion besetzten ostmittel- und osteuropäischen Staaten. Die Masse der Berichte stammt dabei von Angehörigen der letzten beiden Gruppen. Die Ausschnitte sind thematisch nach den Phasen Verhaftung und Verurteilung – Transport zum Haftort – Lagerleben – Heimkehr geordnet, wobei der Schwerpunkt naturgemäß auf der Schilderung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lager liegt. Dabei werden auch Tabuthemen wie Sexualität, Kriminalität oder Hygiene behandelt. Homosexualität, Prostitution und Vergewaltigungen waren im Lageralltag an der Tagesordnung und auch ein Mittel, um die Häftlingshierarchie, an deren Spitze die sogenannten "Kriminellen" standen, sichtbar zu machen und zu festigen. Diese "blatnois", wie sie im Lagerjargon hießen, waren gewöhnlich wegen schwerer krimineller Vergehen verurteilte Sowjetbürger und ihr Verhalten spielt in vielen Berichten eine herausragende Rolle. Sie misshandelten die Neuankömmlinge im Lager, nahmen ihnen alles Brauchbare ab und machten ihnen so deutlich, dass ihr Platz in der Häftlingsgesellschaft ganz unten war. Im Zusammenspiel mit den vielfältigen Schikanen der Wachmannschaften im Lager und am Arbeitsplatz entstand so ein Klima ständiger Angst, das den Alltag bestimmte. Dazu kamen die körperlichen Belastungen der Zwangsarbeit. Unter unmenschlichen klimatischen Bedingungen mit extremer Kälte im Winter und Insektenplagen im kurzen, heißen Sommer, mussten die Gefangenen mit unzureichender Ausrüstung und Bekleidung an unsinnigen Großprojekten arbeiten oder Rohstoffe für den sozialistischen Wiederaufbau fördern.

Ein eigenes Kapitel ist der Frage gewidmet, wie man unter diesen Umständen die Hoffnung auf Überleben und ein Wiedersehen mit der Familie und den Freunden wahren konnte. Hier werden sehr unterschiedliche "Strategien" deutlich. Während einigen schon allein der Gedanke an ihre Familie Kraft zum Durchhalten gab, versuchten andere, sich geistige Ablenkung zu verschaffen, indem sie Diskussionsgruppen bildeten, Sprachunterricht erteilten oder alles lasen, was ihnen in die Finger kam. Ein regelrechter Ruck ging durch die Lager, als sich die Nachricht von Stalins Tod verbreitete. Bald danach wurden denn auch die Haftbedingungen besser und es bestand wieder eine reale Aussicht auf Entlassung und Heimkehr. Insgesamt entsteht so ein reichhaltiges Panorama an Erlebnissen in Stalins GULag. Wie erwähnt, sind die meisten Berichte zwar schon an anderer Stelle veröffentlicht, aber die Leistung der "Anthologie" besteht in der Ordnung und Strukturierung des Materials. Wer Aussagen zu bestimmten Themenbereichen sucht, wird anhand der inhaltlichen Gliederung schnell fündig. Teilweise wird diese Untergliederung allerdings übertrieben, wenn in einem Unterabschnitt mehrere Ausschnitte derselben Person auftauchen, teilweise kurz hintereinander. Hier hätte man ruhig längere Passagen einfügen sollen, um ein geschlosseneres Bild zu vermitteln.

Falls man diese Quellensammlung nutzt, sollte man sich aber auch über den ideologischen Hintergrund des Verlages im Klaren sein. Der Leopold Stocker Verlag verlegt viele Werke mit rechtskonservativen bis rechtsextremen Inhalten, etwa die Erinnerungen von Rudolf Heß unter dem Titel "Ich bereue nichts" oder die Zeitschrift "Neue Ordnung". Und so tauchen im Literaturverzeichnis denn auch neben völlig unverfänglichen Werken, Bücher aus eindeutig rechtsextremen Verlagen wie dem Grabert-Verlag oder der VGB-Verlagsgesellschaft Berg auf. Unkommentiert sind auch Ausschnitte aus den Erinnerungen von Kajetan Klug übernommen, die 1941 im Zentralverlag der NSDAP erschienen sind. Der weltanschauliche Zweck, der mit dieser "Anthologie" verfolgt wird, wird in der Einleitung deutlich. Dort heißt es, dass die "eindeutige Absicht der sowjetisch-stalinistischen Machthaber" belegt werden soll, ihre Gegner durch Arbeit zu vernichten (S. 13). Das Buch gehört also auch in die Reihe der Werke, die den Holocaust relativieren wollen, indem sie seine Einzigartigkeit mit dem Argument bestreiten, auch anderswo habe es Lager gegeben, die der reinen Vernichtung gedient hätten. Durch diese Zielsetzung erklärt sich auch die Übernahme der Zitate von Elie Wiesel und die Nichtberücksichtigung neuerer Forschungsergebnisse, die beim GULag die ökonomische Zielsetzung betonen und viele der schikanösen Haftumstände mit objektiven Gegebenheiten der katastrophalen Situation in der Sowjetunion nach Kriegsende erklären. Für die deutschen Kriegsgefangenen hat Andreas Hilger dies in seiner Dissertation unlängst überzeugend nachgewiesen.

Mit dem Wissen um diesen ideologischen Hintergrund und einem wachen Auge beim Lesen des Quellen- und Literaturverzeichnisses lässt sich diese Sammlung von Zeitzeugenberichten aber durchaus als Ausgangspunkt für spezifische Fragestellungen bei der Erforschung der Haftlager in der Sowjetunion benutzen. Vor allem sollten zusätzlich Berichte von Angehörigen anderer Nationen hinzugezogen werden, um dem Eindruck zu begegnen, dass Deutsche in den Lagern schlechter behandelt worden wären als andere Volksgruppen.

Jens Binner, Hannover





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