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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Aleksandar Jakir, Dalmatien zwischen den Weltkriegen. Agrarische und urbane Lebenswelt und das Scheitern der jugoslawischen Integration, R. Oldenbourg Verlag, München 1999, 534 S., geb., 120 DM.

Das verblüffendste an diesem Buch ist sein letzter Absatz. Nachdem der Verfasser über einige hundert Seiten hinweg am Beispiel Dalmatiens Probleme der Nation und des Nationalstaates, der ländlichen und städtischen Lebenswelten, der Agrarreform und der Modernisierung, diskutiert hat, schließt er mit der Feststellung, sein Untersuchungsgegenstand liege südlich der Grenze des Olivenbaums und gehöre zum Mittelmeerraum. Dessen Grenzen wiederum seien, wie der Slawist Predrag Matvejevic schreibt, weder im Raum noch in der Zeit verzeichnet. Sie seien "nicht ethnisch und nicht historisch, nicht staatlich und auch nicht national [...]".

Die Auflösung der dalmatinischen Problematik in der mediterranen Anthropologie lässt sich als eine Art Nachbemerkung und Zurücknahme interpretieren, die das, was auf den vorangegangenen 450 Seiten geschrieben steht, zwar nicht relativiert, es aber doch einem weiteren Rahmen zuordnet, der nicht "balkanisch", "jugoslawisch" oder "südosteuropäisch" in dem negativen Sinne ist, den diese Wörter durch die Ereignisse des letzten Jahrzehnts (wieder) angenommen haben. Erst nach langer Suche wird man nämlich im Mittelmeerraum auf Fälle gelungener Modernisierung und Industrialisierung treffen, während es umgekehrt wenig Mühe macht, politische Systeme aufzufinden, die vom clientelismo oder caciquismo geprägt sind, in denen Korruption und Vetternwirtschaft mit Querverbindungen zum organisierten Verbrechen das Bild bestimmen. So gibt die Entwicklung der dalmatinischen Stadt Split jemandem, der sich mit anderen Hafenstädten des Mittelmeerraumes befasst hat, nur wenige Rätsel auf. Und auch die Bodenreform des monarchistischen Jugoslawien erinnert in vielerlei Hinsicht an ähnliche, mit wenig Erfolg ins Werk gesetzte Reformprogramme in anderen Anrainerstaaten des Mittelmeers.

"Typischer" für Dalmatien ist dagegen die Tatsache, dass eine zweisprachige und bikonfessionelle Gesellschaft mit dem Scheitern von Modernisierungsprozessen und mit der Aufweichung von Reformprojekten konfrontiert ist. Daraus folgt auch, dass die regionale Gesellschaft auf die ökonomische Krise mit sozialer ebenso wie mit nationaler Mobilisierung reagieren kann. Bereitwillig hat der Verfasser eingangs zugegeben, dass es ihm darum geht, "geschichtliche Vorgänge und Zusammenhänge zu erklären", die "zur verhängnisvollen Entwicklung des serbisch-kroatischen Verhältnisses" überleiteten (S. 22). Damit wären wir bei einer Hauptkonfliktlinie des balkanischen Knotens angelangt, obgleich Jakir einschränkend hervorhebt, dass innerdalmatinische Widersprüche und Gegensätze keineswegs stets mit den Begriffspaaren Serbisch/Orthodoxie und Kroatisch/Katholizismus zu fassen sind.

Der Autor, der ausschließlich in kroatisch-dalmatinischen Archiven gearbeitet, diese aber dafür umso gründlicher durchgesehen hat, widmet der in Dalmatien vor allem in Form von Baudenkmälern und schmalen Eliten vorhandenen Italianità nicht mehr Aufmerksamkeit, als diese auch tatsächlich verdient. Seitdem die kroatischen Narodnjaci (etwa: "Volkstümler") bei den Kommunalwahlen von 1882 die proitalienische Liste besiegt hatten, spielte eine autonome dalmato-italienische oder italo-dalmatinische Strömung entlang der östlichen Adriaküste keine Rolle mehr. Die Frage der Zugehörigkeit Dalmatiens zum italienischen Kulturraum konnte seither nur noch in eindeutig imperialistischer Absicht vom Westufer aus aufgeworfen werden, was Mussolini ja dann auch ausgiebig tat.

Jakir beschreibt die Gründung des "Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen" nach dem Ersten Weltkrieg vor allem als Antwort auf zwei Gefahren, die damals den südslawischen Eliten drohten: 1) die römische Expansionspolitik, die dazu geführt hatte, dass in den letzten Kriegswochen weite adriatische Grenzregionen, Inseln und Küstenstreifen durch die Italiener besetzt worden waren und 2) Bauernaufstände und soziale Bewegungen ehemaliger Soldaten, die als sogenannte "grüne Kader" gegen das System des jugoslawischen Einheitsstaates opponierten. Am Beispiel der Agrarreform zeigt Jakir, dass die Lebensverhältnisse der Serben und Kroaten kaum voneinander abwichen. Anfang der 30er Jahre kam es immer wieder vor, dass im Konflikt mit der Regierung ein "Ivan" für einen "Jovan" und ein "Stevan" für einen "Stjepan" oder "Stipe" als Zeuge auftrat. In den Prozessen gegen den Staat, der den italienisch-adeligen Latifundienbesitz übernommen hatte, waren sich serbische und kroatische Bauern einig. Der Stadt-Land-Gegensatz fiel zunächst viel stärker ins Gewicht als Reibungen, die von kulturellen Unterschieden herrührten. Doch der Versuch Belgrads, die Einheitseuphorie von 1918/19 in die Form des Jugoslawismus zu gießen und eine neue Nation zu kreieren, war 1930 längst misslungen. Es stand bereits fest, dass serbisch-orthodoxe und kroatisch-katholische Prägungen tiefer reichten als die kurzfristige politische Einheitsbegeisterung. Jakir interessiert sich hier vor allem für das "kroatische Sonderbewusstsein", dessen Entstehung durch die Bauernpartei des 1926 im Parlament von einem nationalistischen Montenegriner tödlich verletzten Stjepan Raditsch gefördert worden war. Tatsächlich trug diese populistische Partei mit ihrer Agitation dazu bei, eine forma mentis zu schaffen, deren Träger auf Distanz zu den privilegierten, herrschenden "Groß-Serben" gingen; auf kroatischer Seite stellte sich ein Gefühl moralischer Überlegenheit ein, das half, "die eigene Machtlosigkeit besser zu verarbeiten".

Gleichwohl fiel die Abgrenzung gegenüber Belgrad sehr viel schärfer aus als diejenige gegenüber den Serben in Dalmatien selbst, die sich noch bis in die achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts nur konfessionell, nicht aber national zuordnen ließen. "Die Unsrigen" nannten sie sich damals, ehe politische Parteien, Genossenschaften und patriotische Vereine begannen, ein Minderheitenbewusstsein zu wecken, das nach dem Großen Krieg zum Hegemonialbewusstsein des ersten unter den drei Stämmen der "dreinamigen Nation" der Serben, Kroaten und Slowenen wurde. Doch auch die serbisch-dalmatinische Seite baute mittelfristig eher auf ein Zusammengehen mit der kroatischen Bauernpartei als auf eine serbokroatische Konfrontation: Zu sehr wurden Kroaten und Serben der vormals habsburgischen Gebiete, die sogenannten Pretschani, gemeinsam von einer einseitig Altserbien begünstigenden Politik der Belgrader Zentralregierung geschädigt.

Immer wieder fragt sich der Leser, wann denn nun der Point of no return eingetreten sein soll, wann also jene "bipolare Verhärtung des südslawischen Nationalismus" (Schödl) erreicht wurde, die es unmöglich machte, Serben und Kroaten zu einer Nation zusammenzuschließen. Die Suche nach einem solchen "magischen Datum" ist vergeblich, weil verschiedene soziale Gruppen zu unterschiedlichen Zeitpunkten desillusioniert wurden und weil das "erste Jugoslawien" nicht aufgrund innerer Widersprüche, sondern vor allem unter den Schlägen der Achsenmächte zusammenbrach.

Wahrscheinlich muss man an dieser Stelle eine Unterscheidung einführen, die so nicht aus Dalmatien, sondern aus Slowenien stammt: die Differenz zwischen einem politischen und einem kulturellen Jugoslawismus. Ersterer, der auf der vollständigen Anerkennung der wechselseitigen Verschiedenheiten aller südslawischen Nationalitäten beruhen sollte, kam im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit wenn überhaupt, dann erst viel zu spät zum Zuge. Letzterer hingegen, der die Existenz einer dreinamigen Nation unterstellte, war binnen zweier Jahrzehnte so sehr diskreditiert, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr daran zu denken war, ihn wiederherzustellen. Aleksandar Jakir, dessen Buch wir eine große Anzahl wertvoller Einsichten zur Funktionsweise, zu den Gründungsmythen und Kardinalfehlern des "ersten Jugoslawien" verdanken, bearbeitet inzwischen ein Forschungsprojekt zur Arbeiterselbstverwaltung im Jugoslawien Titos. Man darf auf die Ergebnisse seiner Recherchen gespannt sein.

Rolf Wörsdörfer, Frankfurt am Main





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