ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Werner Hahn, Werner Greiling, Klaus Ries (Hrsg.), Bürgertum in Thüringen. Lebenswelt und Lebenswege im frühen 19. Jahrhundert, Hain Verlag, Rudolstadt 2001, 367 S., geb., 39,80 DM.

Der Sammelband enthält zwölf biografische Studien, die im Rahmen des Jenaer Sonderforschungsbereichs "Ereignis Weimar-Jena um 1800" und eines davon inspirierten Oberseminars entstanden sind. Sie wenden von den Bürgertumsforschungen der letzten Jahrzehnte entwickelte Instrumentarien auf die in dieser Hinsicht bislang wenig untersuchte Region "Thüringen" an. Die Arbeiten in dem Sonderforschungsbereich machten das Fehlen neuerer Studien zum gesellschaftlichen Umfeld des klassischen Weimars und zur Konstituierung bürgerlicher Schichten in diesem damals kleinstaatlichen und von preußischen Gebieten durchsetzten Raum insgesamt schmerzlich bewusst. Er interessiert dabei als eine gegenüber den Groß- und Mittelstaaten keineswegs randständige sondern vielmehr kulturell, bildungs- und wirtschaftsbürgerlich markante und für die bürgerliche Nationalbewegung nach 1800 impulsgebende Region. Dafür stehen der klassische Kulturkreis Weimar-Jena ebenso wie das national kulturell ambitionierte nachklassische Weimar, wie Coburg-Gotha als Vorhof der nationalliberalen Bewegung, das preußische Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum Erfurt als Tagungsort des Erfurter Unionsparlamentes 1850, die Burschenschaftsbewegung und das Wartburgfest 1817 oder die Einigungsbewegung der Revolution 1848/49.

Dies alles wurzelte in bislang allenfalls teiluntersuchten Basisprozessen. Die kleinteiligen, polyzentrischen, städtisch sehr dichten, eng vernetzten Strukturen dieser kleinstaatlich-preußischen Mischregion haben - wie Forschungen und Publikationen der letzten Jahre, darunter auch der Mitherausgeber Hahn und Greiling, deutlich machten - die Transformations- und Integrationsprozesse nach 1800 weniger behindert als vielmehr gefördert und in spezifischer Weise geprägt. Hier spielte sich der allgemeine Strukturwandel von der geschlossen-ständischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts zur offeneren Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und ihrer zunehmend bürgerlich geprägten Öffentlichkeitskultur oft in geradezu paradigmatischer Weise ab. Diese Region bietet deshalb ein vorzügliches Feld entsprechender Fallstudien. Sie können die systematische Feldforschung nicht ersetzen, wohl aber Schneisen in diese Richtung schlagen. Dafür wählten Herausgeber und Autoren die biografische Form. Mit ihr soll ein möglichst breites Leserpublikum erreicht werden. Sie strebt zugleich eine Typologie bürgerlicher Lebenswelten und Lebenswege sowie ihrer familiären und meist städtischen Milieus im kleinstaatlichen und preußischen Thüringen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an.

Dieses Anliegen, die Besonderheiten der untersuchten Region, den methodischen Ansatz und den Forschungsstand markiert der Mitherausgeber Hahn in seiner pointierten Einleitung. Mit Blick auf die teilweise kontroversen Richtungen der Bürgertumsforschung - die Bielefelder Schule um Wehler und Kocka, die vor allem die Formen "neuer Bürgerlichkeit" des 19. Jahrhunderts betont hat und die Frankfurter Schule um Gall, die das alteingesessene Stadtbürgertum als Träger der Transformationsprozesse hervorhob - strebt der vorliegende Band eine harmonisierende Synthese an. "Der vielschichtige Charakter des Thüringer Bürgertums" - so Hahn - mache deutlich, "dass in der unmittelbaren Umbruchsphase nach 1800 sämtliche Gruppen im Zusammenwirken mit den staatlichen Reformkräften am modernisierungsgeschichtlichen Transformationsprozess beteiligt waren. Das alteingesessene Stadtbürgertum, die so genannten ,neuen Bürgerlichen’ wirtschafts- und bildungsbürgerlicher Provenienz und die staatliche Funktionselite wirkten gemeinsam beim Aufbau einer neuen bürgerlichen Gesellschaft, in deren Leitbildern, Wertvorstellungen und Verhaltensformen, kurzum: in deren Kultur, sie sich wiederfanden" (S. 25). Eine solche Sicht auf die "allgemeine Aufbruchszeit zwischen 1770 und 1850" relativiere "die teilweise überzogenen Debatten über fortschrittshemmende bzw. -fördernde Teile des deutschen Bürgertums".

Dieses Aufstiegs-, Harmonie- und Synthesemodell bildet den Rahmen der einzel- bzw. familienbiografischen Studien, die sehr unterschiedliche, durch die Konzentration auf die kultur- und bildungsintensive Region Weimar-Jena mit der Gewerbestadt Apolda in mancher Hinsicht aber wiederum recht verwandte oder miteinander vernetzte Lebenswege behandeln. Sieben der insgesamt zwölf Studien befassen sich mit Weimar, Jena und Apolda. Im Einzelnen porträtiert werden dabei: der Jenaer Historiker Heinrich Luden als Typus des "politischen Professors" und bildungsbürgerlichen "Geburtshelfers der frühen nationalliberalen Bewegung" (Ries); der Weimarer Mediziner und Verleger Ludwig Friedrich v. Froriep, der Bertuchs Landes-Industrie-Comptoir als größtes Gewerbeunternehmen des klassischen Weimars - allerdings in seiner wirtschaftlichen Niedergangsphase - übernahm und so für die Kombination von Bildungs- und Wirtschaftsbürger steht (Wiepke v. Häfen); die ebenfalls diesen Typus verkörpernde Jenaer Verleger- und Buchhändlerfamilie Frommann, die in das Dilemma geriet, mit ihrem entschieden zivilbürgerlich-gesellschaftlichen Engagement dem eigenen gewerblich-buchhändlerischen Erfolg im Wege zu stehen (Frank Wogawa); der etwas blass wirkende Mediziner Thomas Johann Seebeck als Typus eines Privatgelehrten und "Naturforschers ohne Amt", der sich als zeitweiliger Goethe-Mitarbeiter Meriten erwarb (Stefan Gerber); der Weg des Strumpfwirkermeisters Christian Zimmermann zum größten Apoldaer Textilunternehmer und zur örtlichen Legende des erfolgreichen "Aufstiegs aus einfachen Verhältnissen" und damit als klassisches Beispiel des self-made-Wirtschaftsbürgertums (Tobias Kaiser); der Lebensweg des Weimarer Handwerkers, Publizisten und Politikers Adam Henß, der als "politischer Buchbinder" eine besonders aufschlussreiche Kombination von gesellschaftlich aktivem Wirtschafts- und Bildungsbürgertum verkörperte und mit seiner Publizistik Einblick in den gedanklichen Mikrokosmos der nationalliberalen Bewegung der Vormärz-Zeit und seine höchst widersprüchlichen geistigen Ingredienzien gibt (Hahn/Frank Fritsch) sowie der Jenaer Handwerker, Ziegeleibesitzer und kommunalpolitisch exponierte Stadtbürger Johann David Böhme, der sich noch kurz vor seinem Tode in der Revolution 1848 bei den Demokraten engagierte (Falk Burkhardt).

Von den fünf übrigen Studien beziehen sich zwei auf Erfurt als zentral gelegene und größte Stadt der Region "Thüringen". Sie porträtieren den Aufstieg der altständischen und katholischen stadtbürgerlichen Familie Lucius in die neue wirtschaftsbürgerliche Elite Erfurts (Hahn) und die - trotz erheblicher örtlicher Widerstände - erfolgreiche Emanzipation der jüdischen Bürgerfamilie Unger, die mehrere Generationen von Kaufleuten, Bankiers, Lehrern und Wissenschaftlern stellte (Olaf Zucht). In beiden Fällen fanden die - vom an sich für Thüringen charakteristischen protestantischen Grundmuster abweichenden - Aufstiegs- und Emanzipationswege aufschlussreichen Rückhalt beim preußischen Staat, zu dem Erfurt seit 1802/15 gehörte. Zwei weitere Studien porträtieren Wirtschaftspioniere: den Erfinder und Industriellen Johann Nicolaus v. Dreyse, der im Ackerbürgerstädtchen Sömmerda eine der größten Waffenfabriken des preußischen Staates schuf, die Tugenden des "Betens und Arbeitens für König und Vaterland" bestens mit dem eigenen Profit zu verbinden verstand und als "Waffenschmied Thüringens" eine erinnerungskulturell höchst aufschlussreiche Nach-Karriere erfuhr (Frank Boblenz) und den Gothaer Versicherungspionier Ernst Wilhelm Arnoldi, der als Unternehmer wie öffentlich engagierter Bürger weit über Gotha hinaus wirkte und den die Studie zum Muster eines wirtschaftlich erfolgreichen und kommunal politisch tätigen Bürgers mit ausgeprägtem Mäzenatentum und harmonischem Familienleben stilisiert (Sven Ballenthin). Die zwölfte Studie greift über das ansonsten durchweg skizzierte städtische Milieu hinaus. Sie liefert das Doppelporträt zweier Oppurger Pastoren und Aufklärungsschriftsteller als Prototypen politisch-sozial engagierter und damit Maßstäbe setzender "politischer Pastoren"; wie alle Pastoren waren die beiden Schuberts die einzig akademisch Gebildeten auf dem Dorfe und damit charakteristische Beispiele für "(Bildungs-)Bürgerlichkeit im ländlichen Milieu" (Greiling).

Der Überblick zeigt: Die von den Herausgebern und mehreren jüngeren, zum Teil noch studentischen Autoren geschriebenen, überwiegend quellengestützt und durchweg solide gearbeiteten Studien beschreiben interessante, aufschlussreiche und für ihre Zeit zweifellos jeweils typische "bürgerliche" Einzelfälle, Lebenswelten und Lebenswege. Der Band erfüllt damit den angestrebten Zweck, schließt in mancher Hinsicht Lücken und weist Wege für künftige Forschungen. Er hinterlässt einen insgesamt positiven Grundeindruck. Man möchte ihn eigentlich nur loben. Doch bleiben einige Fragen und Einwände.

Fraglich ist vor allem, ob sich aus den biografischen Studien tatsächlich eine Typologie des "Bürgertums in Thüringen" ergibt. Die Einleitung betont zwar, es werde keine typologische Vollständigkeit angestrebt. Sie erweckt aber doch den Eindruck, der Band wolle eine Art Kollektivporträt im Sinne einer solchen Typologie liefern. Der metaphorische - an Galls klassische, einen Einzelfall gleichsam pars pro toto porträtierende Studie "Bürgertum in Deutschland" anspielende - Obertitel "Bürgertum in Thüringen" verstärkt diesen Anspruch, den der Band aber nicht einlösen kann. Dafür sind die in den Studien beschriebenen - zwar alle mit den Kategorien "Bildungs-" und "Wirtschaftsbürgertum" bzw. deren Kombination umschreibbaren - Lebenswege und -welten doch zu heterogen, die Studien zu sehr auf Weimar, Jena und Erfurt konzentriert und die zwischen soziologischen, politisch-kulturellen und zivilgesellschaftlichen "Bürgertums"-Begriffen schwankende Begrifflichkeit zu unentschieden.

Die Frage, was denn die untersuchten Fälle tatsächlich verbinde, beantworten die Herausgeber mit dem Hinweis auf erfolgreichen Aufstieg, Bildungsstreben, Politisierung, Bereitschaft zum öffentlichen Wirken und - als Thüringer Kleinstaaten-Spezialität - besondere Staatsnähe. Das freilich sind allgemeine, im Regelfalle immer zutreffende Kriterien. Auch werden mit dem von Vierhaus übernommenen und in diesem Band recht elitär-harmonisch anmutenden "Aufstiegs"-Modell unter dem Sammelbegriff "Bürgertum in Thüringen" allzu Verschiedenes - der Waffenfabrikant Dreyse wie der nationale Prophet Luden, der Antisemit Henß wie die jüdische Bürgerfamilie Unger - zusammengebracht und dabei kaum die Widersprüche, Ambivalenzen, Konfliktlinien und Ausgrenzungsmechanismen erörtert. Sie werden nur in wenigen Fällen angesprochen und dann - wie die Ausgrenzung von Frauen und Arbeiterschaft oder Ludens Nationalismus - eher heruntergespielt. Dem leistet das Argument Vorschub, der Band beschreibe ja den Aufstieg des Bürgertums und nicht die späteren Krisen- und Niedergangsprozesse. Nur im Falle etwa von Henß’ Antisemitismus oder dem Bestreben des alten Stadtbürgertums Henß in Weimar und den Ungers in Erfurt die Stadtbürgerrechte zu verweigern spürt man die Schärfe der Gegensätze und die Dramatik der Konflikte. Das Bestreben die verschiedenen Richtungen der Bürgertumsforschungen zu einer Synthese zu bringen, begünstigt dieses eher additive Verfahren und die allzu harmonisierende Sicht auf die Aufstiegsphase des Bürgertums. Letztlich umschreibt "Bürgertum" in diesem Band alles, was irgendwo zwischen Adel, alten und neuen Unterschieden lag, mit seinem Wertekanon für "bürgerliche Tugenden" und mit seinem privaten wie öffentlichen Engagement für Transformation, Modernisierung, Fortschritt, zivilgesellschaftliche Integration und Aufstieg in eine neue Elite steht.

Zudem hat die für diesen Band gewählte biografische Methode neben ihren unbestreitbaren Vorteilen - Leserfreundlichkeit und Erschließung bürgerlich-familiärer Lebenswege und -welten - auch ihre Tücken. So bleiben das städtische Milieu und das wirtschaftlich-soziale Umfeld eher unterbelichtet. Hier wäre ein die biografische Methode ergänzender soziologischer Analyseansatz hilfreich gewesen. Er wird aber nur in einigen Studien angewandt. Am überzeugendsten ist die Kombination biografischer und soziologischer Analysemethoden in den Studien über Oppurg (Greiling), Apolda (Kaiser) und Jena (Burkhardt) gelungen. Um dieses Defizit etwas zu mildern, haben die Herausgeber dem Band einen umfangreichen und höchst nützlichen Anhang mit sozialstatistischen Daten zu den Thüringer Städten und Flecken des 18./19. Jahrhunderts (Boblenz) angefügt, ohne damit das angedeutete Problem lösen zu können.

Die Einwände sollen den Wert und Forschungsertrag des vorliegenden Bandes nicht schmälern. Sie unterstreichen vielmehr die Leistung dieses Bandes, der eine neue - auch theorie- und methodengerichtete - Diskussion über solche und andere Fragen von "Bürgertum und Region" im Allgemeinen wie in "Thüringen" im Besonderen überhaupt erst ermöglicht und anstößt.

Jürgen John, Jena





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