ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrich Enders / Josef Henke (Bearb.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 10: 1957, hrsg. für das Bundesarchiv von Hartmut Weber, R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 611 S., geb., 120 DM.

Mit dem Band für 1957 führt das Bundesarchiv die Serie der Kabinettsprotokolle in der bewährten, auf editorisch hohem Niveau stehenden Form fort. Der vorliegende Band enthält die Sitzungen des Kabinetts Adenauer bis zur Bundestagswahl am 15. September des Jahres sowie die ersten Sitzungen des neuen Kabinetts nach Bildung der neuen Regierung. Neben den Protokollausfertigungen zu den Kabinettsitzungen und einzelnen Sondersitzungen sind in bestimmten Fällen auch Anlagen zu den Protokollen abgedruckt, wenn sie zum Verständnis der Protokolle beitragen oder diese ergänzen. Der umfangreiche Kommentar bietet die notwendigen textkritischen Erläuterungen und die Identifizierung der erwähnten Personen und will inhaltlich an den Beratungsgegenstand heranführen. Darüber hinaus beabsichtigt er, die im Bundesarchiv, aber auch anderen Archiven zu den Beratungsgegenständen vorhandene archivalische Überlieferung soweit wie möglich nachzuweisen. Damit ist die Edition der Kabinettsprotokolle des Bundesarchivs auch ein Wegweiser für den historischen Forscher, der bestimmten Aspekten eventuell genauer nachgehen will.

Die Einleitung gibt eine Einführung in die das Kabinett in diesem Jahr beherrschenden politischen Probleme und stellt die wichtigsten der in den Protokollen angesprochenen Fragen in einen größeren Zusammenhang. Nach Durchsicht des Bandes kann man in einzelnen Fällen zu einer anderen Schwerpunktbildung kommen als die Herausgeber in ihrer Einleitung. Die eventuellen Unterschiede liegen jedoch alle im Rahmen der gebotenen und zu verantwortenden subjektiven Wertung, die eine Auswahl immer beinhaltet.

Außen- und sicherheitspolitisch beherrschten nach dem 1955 erfolgten NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Jahre 1957 die Beziehungen zum Bündnis sowie die Frage der Atombewaffnung die Diskussion. Adenauer hielt eine Verständigung der USA mit der Sowjetunion vor allem in Abrüstungsfragen auf Kosten der Interessen der kleineren Bündnispartner für möglich. Einer atomaren Bewaffnung der NATO in Europa glaubte er sich im Interesse einer festen Bindung der Bundesrepublik an die westliche Führungsmacht und einer Festigung der NATO insgesamt nicht entziehen zu dürfen. Er suchte das Gespräch mit den Verfassern der "Göttinger Erklärung" und präzisierte in der Öffentlichkeit seine anfangs undeutliche Haltung dahingehend, dass es um die Lagerung von Atomsprengköpfen unter amerikanischer Verfügungsgewalt auf dem Boden der Bundesrepublik gehe und die Bundeswehr nur die entsprechenden Trägerwaffen erhalten sollte. Adenauer nahm so den Angriffen der Gegner, nicht zuletzt der SPD, die Spitze. Durch den Erfolg bei der Bundestagswahl konnte er sich bestätigt fühlen.

In der Ost- und Deutschlandpolitik behielt die Regierung Adenauer ihre Doppelstrategie bei. Ein Gesprächsangebot des sowjetischen Ministerpräsidenten Bulganin nahm sie auf, das 1958 zu einem Vertrag mit der Sowjetunion über Handel, Seeschifffahrt und Konsularfragen führte. Die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien brach sie dagegen entsprechend der "Hallstein-Doktrin" ab, nachdem Jugoslawien seinerseits die DDR anerkannt hatte (Kabinettsbeschluss vom 17. Oktober 1957). Die Verfolgung dieser Linie schloss jede politische Einwirkung auf die östlichen Nachbarstaaten aus. Darüber hinaus war Adenauer aber nicht an der Verschärfung der Gegensätze interessiert. Am 9. Januar sprach er sich beispielsweise dagegen aus den Zusammenbruch der Kohleversorgung der DDR zu provozieren und verlangte am 6. Februar sich vor allem zu hüten, was die Sowjetunion als politische Provokation auffassen könnte. Gegenüber Polen sprach sich das Kabinett am 21. November für eine Stundung von dessen Zahlungsverpflichtungen aus dem Warenverkehr aus und war bereit die Frage der Stundung von Kreditfälligkeiten zu prüfen. Die Bundesminister Oberländer und von Merkatz forderten übrigens bei dieser Gelegenheit – vergeblich - für eine der nächsten Kabinettsitzungen "eine Grundsatzdebatte über die deutsche Ostpolitik".

In der Europapolitik ging es 1957 um die Verhandlungen zur Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und von Euratom durch die sechs Gründungsmitglieder. Indem Adenauer bei diesem Prozess, im Gegensatz auch zu Wirtschaftsminister Erhard, politische Erwägungen über rein wirtschaftliche stellte und für eine entgegenkommende Haltung der Bundesrepublik sorgte, konnten die Verträge schon im März 1957 unterzeichnet werden. Aus heutiger Sicht erstaunt der Raum, den im Kabinett die Frage der Behandlung der französischen und belgischen Kolonien im EWG-Vertragswerk einnahm. Die Spannbreite der Einschätzungen lag dabei zwischen den Kolonien als finanziellem und moralischem Verlustgeschäft, für das nun auch die Bundesrepublik zahlen sollte und den Vorstellungen von Afrika als dem Raum lohnender gemeinsamer europäischer Investitionen und Absatzmärkte.

Eine relative finanzielle Stärke im Vergleich zu ihren europäischen Partnern, die die Position der Bundesrepublik bis in die 1980er-Jahre kennzeichnete, war schon 1957 gegeben, einer Zeit, in der sie auch noch geringere Rüstungslasten trug als später. Aus politischen Rücksichten konnte diese finanzielle Stärke aber nur in zurückhaltender Weise zur Umsetzung deutscher Interessen eingesetzt werden. Die Kabinettsbeschlüsse vom Juli für eine vorzeitige Freigabe der letzten D-Mark-Quote für die Weltbank und für – auch konjunkturpolitisch begründete – Zollsenkungen sollten negativen außenpolitischen Folgen wegen des Unmuts über die "extreme deutsche Gläubiger-Position" wegen des Zahlungsbilanzüberschusses entgegenwirken. Im Zusammenhang mit einem Kreditersuchen Frankreichs an die OEEC war sich das Kabinett am 27. November einig, dass ein solcher Kredit nicht ohne Sanierungsanstrengungen Frankreichs gegeben werden sollte. Auf jeden Fall sollte aber eine Situation vermieden werden, in der die Bundesrepublik bilateral als Kreditgeber von Frankreich Sanierungsmaßnahmen einfordern musste. Wenn auch auf die Bundesrepublik der größte europäische Anteil entfiel, gewährten den Kredit schließlich die Europäische Zahlungsunion und der Internationale Währungsfonds. Im Zuge dieser Wirtschafts- und Finanzdiplomatie gelang es 1958 mit der Ernennung Walter Hallsteins zum ersten Präsidenten der EWG-Kommission den Kabinettsbeschluss vom 13. Dezember 1957 umzusetzen, wonach an der Spitze der EWG eine "Persönlichkeit, welche der deutschen Wirtschaftskonzeption entspricht", d.h. kein Sozialist stehen sollte.

Dass 1957 ein Wahljahr war, wird schon auf der ersten Seite des Protokolls zur Sitzung vom 9. Januar deutlich. Adenauer machte sich im Hinblick auf die Bundestagswahl Gedanken über das Erscheinungsbild der Regierung und der Koalitionsfraktionen und sprach davon, dass eine "kräftige Hand" ihren Eindruck auf die deutsche Wählerschaft nicht verfehlen werde. Über die folgenden Monate ist erkennbar, wie alle Entscheidungen des Kabinetts, insbesondere wenn sie finanzielle Auswirkungen auf die Bundesbürger insgesamt oder bestimmte Gruppen hatten wie die Alterssicherung für Landwirte, die Subvention der Mehlpreise und die Mittel für den Wohnungsbau, unter dem Aspekt der Wählerwirksamkeit geprüft wurden. Opposition im Kabinett gegen zusätzliche Ausgaben kam dabei, seinem Amt gemäß, vor allem von Finanzminister Schäffer. Er und Wohnungsbauminister Preusker steigerten sich in der Sitzung vom 7. Mai zu im Protokoll vermerkten gegenseitigen Rücktrittsdrohungen. Die schroffe und unflexible Verhaltensweise Schäffers in solchen Auseinandersetzungen führte dazu, dass er bei der Regierungsneubildung nach der Wahl das Amt des Finanzministers mit dem des Justizministers vertauschen musste.

In den seit Oktober 1956 laufenden großen Streik der Industriegewerkschaft Metall in Schleswig-Holstein schaltete sich Adenauer auf Bitten des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten von Hassel persönlich ein. Er lud die Tarifparteien zum 17. Januar 1957 zu einem Gespräch nach Bonn ein, ohne dieses, wie zuerst geplant, als Schlichtung zu bezeichnen. Das Ergebnis des Gesprächs waren lediglich neue Verhandlungen der Tarifparteien. Sie kamen schließlich im Februar ohne Beteiligung der Bundesregierung zu einer Einigung, die vor allem die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall als Neuerung vorsah. Die im Zusammenhang mit dem Streik im Kabinett angestellten Überlegungen über die Einführung eines staatlichen Schlichtungswesens, einer Zwangsschlichtung und eines Gewerkschaftsgesetzes blieben ohne konkrete Folgen.

Die Edition der Kabinettsprotokolle 1957 bietet einen Überblick über das gesamte Regierungshandeln des Jahres, so weit es eben protokollmäßig erfasst wurde. Die Präsentation der Quellen und des Kommentars wird im Anhang ergänzt durch die Geschäftsordnung der Bundesregierung, Kurzbiografien der regelmäßigen Teilnehmer der Kabinettsitzungen, eine Übersicht zu deren Teilnahme an den einzelnen Sitzungen; eine allgemeine politische Zeittafel für das Jahr 1957 sowie die üblichen Personen-, Sach- und Ortsindices. Hinzu kommen Fotos von handelnden Personen, einzelnen Dokumenten, Plakaten und Presseausschnitten.

Christoph Stamm, Bonn





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