ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gilad Margalit, Die Nachkriegsdeutschen und "ihre Zigeuner". Die Behandlung der Sinti und Roma im Schatten von Auschwitz (= Reihe Dokumente - Texte – Materialien. Veröffentlicht vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Band 36), Metropol Verlag, Berlin 2001, 304 S., kart., 38 DM.

Angesichts des nationalsozialistischen Genozids ist es überaus verständlich, dass sich die Forschung zur deutschen Zigeunerpolitik auf die Jahre 1933 bis 1945 konzentriert hat. Diese Schwerpunktsetzung sollte jedoch nicht den Blick auf andere wichtige Untersuchungsfelder verstellen. Gerade wenn der spezifische historische "Ort" der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen die Zigeuner bestimmt werden soll, wird die Forschung erstens die von Staat, Kirche und Wissenschaft geprägten, aber auch aus der ländlichen und städtischen Bevölkerung stammenden und vielfach ineinander verschlungenen Diskurse über "Zigeuner" seit dem 15. Jahrhundert analysieren müssen, die ja durchaus nicht deckungsgleich mit dem Selbstbild jener sind, die sich als "Roma" oder "Sinti" verstanden oder verstehen. Die Dekonstruktion des Zigeunerbildes sollte zweitens um die Untersuchung der deutschen und europäischen Zigeunerpolitik vor und nach der nationalsozialistischen Herrschaft ergänzt werden. Dies ist für die frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert für England, Spanien und Frankreich sowie für Südwestdeutschland, das südliche Westfalen und für Schleswig-Holstein geschehen.

Auch das Bild der deutschen Zigeunerpolitik nach 1945 ist in den letzten Jahren konturierter geworden. Angesichts der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik lag hier vor allem die Frage nahe, wie denn die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des "Dritten Reiches" mit diesem Erbe umging. Dazu finden sich sowohl erste Übersichtstexte als auch Hinweise in den inzwischen recht zahlreichen Lokalstudien zur NS-Zigeunerverfolgung, in deren Schlusskapiteln häufig die Entschädigungsproblematik, die unzulängliche Entnazifizierung der polizeilichen "Zigeunerstellen" und die Nachkriegskarrieren der NS-Täter thematisiert werden. Verglichen mit diesen Texten, markiert die Studie von Gilad Margalit eine neue Qualität. Der Autor, dessen Buch man sich an manchen Stellen sorgfältiger aus dem Hebräischen übersetzt gewünscht hätte, untersucht als erster systematisch die deutsche Zigeunerpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den Jahren von 1945 bis etwa 1960; die DDR wird am Rande mitberücksichtigt.

Nach einem kursorischen Überblick über die Zigeunerpolitk vom 15. Jahrhundert bis zum Untergang des "Dritten Reiches" wendet sich der Autor zunächst der bis in die 1960er Jahre als "Bekämpfung des Zigeunerunwesens" firmierenden staatlichen Ordnungspolitik gegen Sinti und Roma zu, danach der - nur ganz zögerlichen - Anerkennung der Sinti und Roma als NS-Verfolgte, der Position der Justiz zur NS-Zigeunerverfolgung, dem zwischen Romantisierung und Rassismus changierenden Zigeunerbild in der politischen Kultur des Landes und schließlich der Entwicklung des bundesdeutschen Diskurses über die NS-Zigeunerverfolgung.

Die Alliierten zeigten, so Margalit, wenig Interesse für die "Zigeunerfrage". Allerdings hoben die Amerikaner das bayerische "Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz" von 1926 auf, da es dem Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz widersprach. Die deutsche Polizei und die Innenbehörden der Länder suchten indessen die restriktive Zigeunerpolitik der Weimarer Republik wieder in Kraft zu setzen und subsumierten die "Zigeunerfrage" wie gehabt unter die Kriminalitätsbekämpfung. Innerhalb dieses Politikansatzes wiederum koexistierten zwei einander widersprechende Positionen. Die erste zielte, in Anlehnung an die Konzepte der Aufklärung, auf eine "Besserung" der Zigeuner durch ihre "Sesshaftmachung". Die zweite, in der Praxis vorherrschende Position sah wie im Kaiserreich und der Weimarer Republik ihre Vertreibung und wahlweise eine rigide Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit vor. Daneben gab es eine vorsichtige Reformströmung, die teils von der Politik, teils von Vertretern der Justizverwaltung getragen wurde. Hier lehnte man eine Restitution der Weimarer Zigeunergesetzgebung ab, da die dort angelegte Diskriminierung Erinnerungen an den Nationalsozialismus wecke und die Grundrechte der Betroffenen antaste. Bisweilen wandte man sich auch deshalb gegen solche Gesetze, weil man die "Zigeunerfrage" als soziales Problem betrachtete, das durch Restriktionen nicht zu "lösen" sei. Faktisch lief diese Gemengelage auf ein Vorgehen hinaus, bei dem zwar die Gleichheit der Zigeuner vor dem Gesetz postuliert, ihre Diskriminierung in der Praxis aber nicht aufgehoben wurde.

Margalit zeigt darüber hinaus anhand der Protokolle des bayerischen Landtages, in denen die Verhandlungen über eine restriktive "Landfahrerordnung" Anfang der 1950er Jahre festgehalten sind, dass zumindest in der frühen bundesdeutschen Politik zwei gegensätzliche Diskurse über "die Zigeuner" eine Rolle spielten. Während in den geschlossenen Ausschusssitzungen des Landtages diskriminierende und rassistischen Zuschreibungen eine erhebliche Rolle spielten, waren die öffentlich zugänglichen Plenarsitzungen durch deren Verschweigen charakterisiert. Das wiederum kann als Reflex auf jenes Tabu gedeutet werden, das gegen öffentlich geäußerten Antisemitismus bestand. Meinungsumfragen aus den 1960er Jahren weisen allerdings auf die Fortexistenz antitsiganistischer Klischees und auf eine konstante Ablehnung gegenüber Sinti und Roma in der Bevölkerung hin. Auch die Bemühungen, nicht nur offen rassistische Invektiven, sondern auch die Stereotypen vom "kriminellen Zigeuner" unter das Rassismus-Tabu zu stellen, die seit den 1980er Jahren zu verzeichnen sind, führten, so Margalit, nicht sehr weit.

Das auch unter den politischen NS-Verfolgten verbreitete Bild vom "asozialen Zigeuner" hatte in den ersten Nachkriegsjahren zur Folge, dass man ihnen als vermeintlich "unwürdigen Elementen" vielfach die Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung verweigerte oder sie nur dann gewährte, wenn die Betroffenen einen ständigen Wohnsitz und eine "geregelte Arbeit" nachwiesen sowie, etwa in Württemberg-Baden, von der Kriminalpolizei positiv begutachtet worden waren. Das dominante Argumentationsmuster zur Entschädigung von Zigeunern fand sich schließlich in einem Grundsatzurteil wieder, das der Bundesgerichtshof am 7.1.1956 fällte. Es meinte eine rassistisch motivierte Verfolgung der Betroffenen erst mit dem Befehl Himmlers vom 16. Dezember 1942, die Zigeuner in ein Konzentrationslager zu verschleppen zu lassen, und dem entsprechenden Ausführungsbefehl des Reichssicherheitshauptamtes erkennen zu können. Die vorhergehenden, spätestens seit 1938 explizit rassistisch argumentierenden Polizeierlasse gegen die Zigeuner wurden hingegen als "polizeiliche Vorbeugungs- und Sicherungsmaßnahmen" bewertet. Das Urteil von 1956 wurde nach Protesten aus der Wissenschaft und Publizistik, aber auch aus der Justiz selbst sieben Jahre später revidiert.

Margalit analysiert des weiteren die zu Beginn der 1950er und 1960er Jahre eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen Robert Ritter, den Leiter der Rassenhygienischen Forschungsstelle, der vor 1945 bei der Zigeunerverfolgung aufs engste mit dem Reichskriminalpolizeiamt zusammengearbeitet hatte, und gegen seine Mitarbeiterin Eva Justin. Diese Verfahren, die der Autor vielleicht um die Darstellung der Nachkriegskarrieren der für den Zigeunermord mitverantwortlichen Kripobeamten und der ebenso sporadischen wie oberflächlichen Nachkriegsermittlungen gegen sie hätte ergänzen sollen, wurden ohne Anklageerhebung eingestellt. Polizei und Staatsanwaltschaften folgten den Beschuldigten vor allem bei der Argumentationsfigur, dass die nach 1945 in "Sozialhygiene" umbenannte Rassenhygiene sowie die Kriminalbiologie wissenschaftlichen Charakter trügen und nichts mit der nationalsozialistischen Rassenideologie gemein hätten. Beim bundesdeutschen Diskurs über die NS-Zigeunerverfolgung unterscheidet Margalit schließlich ein "nazistisches Narrativ", das diese Verfolgung als Teil der Verbrechensbekämpfung legitimiert, ein "quasi-jüdisches Narrativ", das die Zigeunerverfolgung als Verbrechen analog zum Holocaust versteht, und ein "synkretisches Narrativ", das die Verfolgung einerseits auf schuldhaftes Verhalten der Opfer zurückführt, andererseits die Mordpolitik selbst moralisch verurteilt.

Problematisch an Gilad Margalits grundlegender Studie ist, dass seine differenzierte Darstellung kein Pendant in einem ebenso ausgearbeiteten begrifflichen Instrumentarium findet. Der Autor verwendet häufig Termini wie "deutsches Kollektivgedächtnis" oder "deutsches Kollektivbewusstsein", deren analytische Trennschärfe gering ist. Für die Nachkriegsdiskurse über die Zigeunerverfolgung bringt der Autor das selbst zum Ausdruck: "Das Kollektivbewusstsein scheint in dieser Frage zwischen einer Anzahl von Anschauungen gespalten zu sein, die sich in gewissen Bereichen gegenseitig überlappen und in anderen Bereichen völlig widersprechen" (S. 227).

Überhaupt bewegt sich das letzte Kapitel des Buches "Die ‚Entdeckung’ der Zigeuneropfer und ihr Rang in der NS-Opferhierarchie" bisweilen auf einem sehr schmalen Grat zwischen historischer Analyse und ungesicherter Spekulation, wenn es etwa um die Ausführungen Joachim S. Hohmanns und Detlev Peukerts zur nationalsozialistischen Juden- und Zigeunerverfolgung geht. Schließlich ist die These, dass die in den 1980er Jahren einsetzende intensivere Beschäftigung mit der Zigeunerverfolgung vor allem instrumentellen Charakter getragen und die Relativierung des Genozids an den Juden bezweckt habe, in dieser Einseitigkeit nicht zu halten. Man sollte immerhin im Auge behalten, dass die Geschichte solcher "vergessenen Opfer" des Nationalsozialismus wie der Zigeuner zu diesem Zeitpunkt in der Tat der gesellschaftlichen Erinnerung und historiographischen Aufarbeitung harrte und dass damals angesichts des Mangels an einschlägigen wissenschaftlichen Studien durchaus noch nicht sicher war, in welchem Verhältnis der Mord an den Juden und an den Zigeunern zueinander standen.

Michael Zimmermann, Essen





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