ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolf Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung. Österreichische Juden im NS-Staat 1938-45 (=Forschungsgemeinschaft zur Geschichte des Nationalsozialismus: Der Nationalsozialismus und seine Folgen, Band 1), Studien-Verlag, Innsbruck u.a. 2000, 356 S., kart., 61,50 DM.

Wolf Gruner behandelt in seinem Buch einen Teilaspekt der antijüdischen Verfolgung in Österreich während des Nationalsozialismus, der bisher noch kaum behandelt wurde: Die Zwangsarbeit der österreichischen Juden von 1938 bis 1945. In keinem der in letzter Zeit erschienen Werke über den Nationalsozialismus findet diese Form der Zwangsarbeit Erwähnung, auch nicht in einem erst kürzlich erschienen Sammelband über den Nationalsozialismus in Österreich. [Vgl. dazu das erst kürzlich erschienene Sammelwerk von Emmerich Talos et al. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000.] Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass der Forschungsstand zu diesem Thema noch Neuland ist. Die quantitativ geringe Zahl von ca. 20.000 Betroffenen (1939-1945) ist ein weiterer Grund, warum dieser Aspekt noch nicht genau untersucht wurde . Das ist im Vergleich zu den insgesamt mehr als eine Million Zwangsarbeitern, die auf dem Gebiet der Republik Österreich von 1938 bis 1945 beschäftigt waren (Zivile, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge) [Vgl. Florian Freund, Bertrand Perz, Die Zahlenentwicklung der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939 – 1945, Wien 2000.], vergleichsweise wenig. Doch was die Lebensumstände oder die Behandlung betrifft, so steht der Einsatz der jüdischen Zwangsarbeiter dem der KZ-Häftlinge wohl in nichts nach.

Die jüdischen Zwangsarbeiter waren in mindestens 65 Lagern untergebracht, die außerhalb des bisher bekannten Außenlager-Systems des KZ Mauthausen organisiert waren. Gruner zeigt detailliert in acht Kapiteln die verschiedenen Stationen der Zwangsarbeit und Verfolgung. Dieser Prozess beginnt in der "Ostmark" schneller und mit größerer Brutalität als im "Altreich". Kurz nach dem "Anschluss" wurden von den Nationalsozialisten sporadische "Reibeaktionen" (Reinigen der Strassen und Mauern von Parolen für Österreich und/oder den faschistischen Ständestaat) organisiert. Bald begannen Parteiorganisationen organisierte "Putztrupps" zusammenzustellen. Langsam wurden diese sporadischen und willkürlichen Arbeiten zu einem durchorganisierten geschlossenen Arbeitseinsatz auf Großbaustellen in Wien und der Provinz (Straßenbau, Talsperrenbau u.ä.) bis nach Norddeutschland. Betroffen waren überwiegend Juden aus Wien, da schon vor dem März 1938 der Großteil der österreichischen jüdischen Bevölkerung in der Bundeshauptstadt lebte. Diese Konzentration wurde von den Nationalsozialisten noch forciert, um die jüdischen Österreicher kontrollierbarer zu machen. Nach dem November-Pogrom verfolgten die NS-Behörden eine Doppelstrategie: 1. Forcierung der Emigration; 2. "Zwangsweise Reorganisation des Lebens der zurückbleibenden Juden in separaten Strukturen" (S. 70) – gemeint war damit die Gettoisierung.

In dieser Zwangsgemeinschaft wurden im Laufe der Jahre die Lebensumstände immer schwieriger und die Schikanen immer größer. Einkaufszeiten und Geschäfte wurden beschränkt, verschiedene Gebäude, Anlagen durften nicht mehr betreten werden, Arbeitszeiten wurden auch auf das Wochenende ausgedehnt, Löhne wurden meist gar nicht mehr ausbezahlt und wenn sie ausbezahlt wurden, reichten sie nicht einmal zum Überleben. Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien, die praktisch unter der Verwaltung der Gestapo stand, musste dabei den Handlanger spielen. Voraussetzung für die Zwangsarbeit war, dass die Möglichkeit zum geschlossenen Kolonneneinsatz bestand. Die Juden sollten weder mit Deutschen noch mit "Fremdvölkischen" (zivile ausländische Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene) in Kontakt kommen. Über die Organisationsstruktur der IKG Wien wurden die arbeitsfähigen Männer in Lager von Privatfirmen oder öffentlichen Bauträgern geschickt, die über die gesamte "Ostmark" verteilt waren. Wiener Juden wurden sogar in Deutschland in der Landwirtschaft oder zum Bau von Dämmen oder Straßen eingesetzt, da anfangs die Kolonnenarbeitsplätze in der "Ostmark" fehlten. Die IKG Wien betrieb sogenannte "Umschulungslager" (von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung kontrolliert), in denen vor allem Jugendlichen landwirtschaftliche Grundkenntnisse vermittelt werden sollten, um sie nach Palästina bringen zu können. Praktisch mussten aber die dort Eingesetzten hauptsächlich sinnlose Arbeiten erledigen.

Infolge der Emigration (137.000) und der immer effizienteren Deportationen (49.000) schrumpfte die Zahl der in Wien konzentrierten österreichischen Juden von rund 190.000 im Jahr 1938 [Insgesamt gab es am 13. März 1938 181.882 Angehörige der Israelitischen Kultusgemeinde, dazu kamen noch 24.118 „Nichtglaubensjuden„; Zahlen Emmerich Talos, a.a.O., S. 790. ] , auf 4.000 bis 6.000 zum Zeitpunkt des Einzuges der Roten Armee. Davon galten 96% nach den Nürnberger Gesetzen als in "Mischehe" Lebende oder als "Mischlinge", der Rest setzte sich aus Alten, Kranken oder Mittellosen zusammen. Insgesamt ist die Zahl der österreichischen jüdischen Opfer mit ungefähr 65.000 zu beziffern, darin eingerechnet sind die ins europäische Ausland Emigrierten, die von der Wehrmacht und SS eingeholt wurden.

Gruner wartet in seinem Buch mit einem neuen Paradigma auf. Er widerspricht Rosenkranz in seiner Annahme, dass ab dem Pogrom 1938 die Juden ganz der SS unterstellt wurden. [ Vgl. Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938 bis 1945, Wien-München 1978.]
Der Autor sieht vielmehr eine Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Ministerien und Behörden (Reichswirtschaftsministerium für die "Arisierungen", die Kommunen für die Wohnkonzentration, u.ä.), wobei die SS in der "Ostmark" zweifelsohne mehr Einfluss gewann als im "Altreich". Für diese These spricht auch, dass nur zwei der oben angesprochenen 65 Lager direkt von der SS verwaltet wurden. Der Rest wurde von privaten Firmen, öffentlichen Körperschaften, der Gestapo oder anderen NS-Behörden verwaltet.

Im Text versucht Gruner nicht nur die behördlichen Wege, Akten und Entscheidungsprozesse nachzuzeichnen, sondern macht mit Interviews und Zitaten aus Briefen von Betroffenen die Auswirkungen auf den Alltag deutlicher. Das aber ohne übermäßige Emotionalisierung, womit die Arbeit ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht einbüssen muss. In einem umfangreichen Anhang liefert der Autor Tabellen, Listen, Register und Verzeichnisse, die das Buch hervorragend als Studienbuch oder für weiterführende Forschungen eignen. Das wird auch durch die sehr detaillierte Zitierweise unterstützt.

Was bei der Gliederung des Buches jedoch unklar ist, warum der Autor nach vier Kapiteln von der Unterteilung nach zeitlichen Zäsuren abgeht und zu einer einfachen Jahresbeschreibung übergeht. Obwohl die ursprüngliche Gliederung die Verständlichkeit der einzelnen Stationen förderte und es in den letzten Jahren des Krieges nicht an einschneidenden Brüchen fehlte. Resümierend kann festgehalten werden, dass Wolf Gruner mit seinem Buch einen sehr wichtigen Forschungsbeitrag geleistet hat. Mit seiner prägnanten Sprache versucht der Autor durch verschiedenste Blickwinkel Einsicht in die Zwangsarbeit der jüdischen Österreicher von 1938 bis 1945 zu geben. Es fehlen zwar viele Details, deren Wiedergabe aber den Umfang einer Monographie gesprengt hätte und nach dem aktuellen Forschungsstand auch kaum möglich gewesen wäre.

Wolfram Dornik, Graz





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