ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hermann Graml/Angelika Königseder/Juliane Wetzel (Hrsg.), Vorurteil und Rassenhass. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Metropol Verlag, Berlin 2001, 455 S., brosch., 42 DM.

Die Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfgang Benz versammelt 24 Beiträge, von denen 14 tatsächlich sich dem im Untertitel genannten Thema widmen. Untersucht wird von ihnen das Verhältnis von Antisemitismus und Faschismus in Deutschland, Italien, Österreich, Spanien, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Rumänien, Ungarn, Griechenland, Finnland, Norwegen, Dänemark und der Schweiz. Von den Ländern mit größeren faschistischen oder faschistoiden Bewegungen fehlen damit Kroatien und die Slowakei; eine auch sonst in der deutschen Holocaust-Forschung zu beobachtende Lücke. Zu bedauern ist auch, dass keine Studie zu Mosleys britischen Faschisten aufgenommen werden konnte.

Mit der Formulierung des Untertitels und der Länderauswahl beziehen die Herausgeber eindeutig Stellung zu Gunsten der in den letzten Jahren eher wieder in den Hintergrund getretenen Subsummierung auch der NSDAP unter den Begriff "Faschismus". Um dies nicht nur stillschweigend einzuführen, beginnt der Band – nach der Einleitung von Hermann Graml – furios mit einem Aufsatz von Hans Mommsen, der den schlichten Titel "Faschismus" trägt. Nach Charakterisierungen des italienischen Faschismus, des Nationalsozialismus und faschistischer Bewegungen in anderen europäischen Ländern wendet sich Mommsen knapp den "strukturelle(n) Gemeinsamkeiten der Faschismen" zu. Diese sieht er in Antiliberalismus, Antisozialismus und extremem Nationalismus. Der Rassismus hingegen war unterschiedlich ausgeprägt; nicht immer spielte der Antisemitismus eine prominente Rolle. Bekanntestes Beispiel hierfür ist gerade die namengebende italienische Bewegung. Von "neokonservativen" antiliberalen Bestrebungen unterschied sich der Faschismus durch "einen grenzenlosen Kult der Gewalt". Weitere Charakteristika sind nach Mommsen der hohe Anteil jüngerer Anhänger, Männlichkeitsrituale, paramilitärische Lebensformen und ein voluntaristisch geprägter politischer Stil. Mommsen betont, dass eine vergleichende Faschismustheorie den Nationalsozialismus nicht verharmlose, sondern gemeinsame Strukturelemente erst erkennbar mache, "die durch die konkurrierende Theorie der totalitären Diktatur eher verdeckt werden" (S. 27).

Etwas abweichend davon definiert Philippe Burrin den "Kern des Faschismus". Er sieht ihn nur in einem "(imperialistischen) Ethno-Nationalismus". "Und die Juden bilden auf Grund einer langen Stigmatisierungstradition in der christlichen Kultur die am leichtesten als ,fremd’ zu bezeichnende Gruppe" (S. 129). Die Länderbeiträge hingegen, selbst Burrins eigener zu Frankreich, bestätigen mehr Mommsens Definition. Zwar lehnte keine faschistische Bewegung den Antisemitismus ab, doch im Zentrum der Propaganda stand er eher bei kleinen Randgruppen der faschistischen Bewegung. Rassismus im Allgemeinen, Antiliberalismus und Antisozialismus waren Kern faschistischer Auffassungen.

Den Beitrag über das Verhältnis von deutscher NS-Bewegung und Antisemitismus steuerte Ian Kershaw bei. Er hält die Jahre von 1916 bis 1923 für entscheidend für das Erstarken des Antisemitismus in Deutschland. In diese Zeit fiel auch die politische Sozialisation der meisten führenden Nationalsozialisten. Sie waren, so Kershaw, keine "ganz Normalen", sondern sie einte ein "radikaler, zunehmend den Genozid implizierender Antisemitismus" (S. 37). In der Expansionsphase der NSDAP ab 1929 wurde der Antisemitismus aber in der Propaganda aus taktischen Gründen zurückgedrängt. Für die damals gewonnenen Anhänger und Parteimitglieder gelte: "Man wurde in der Regel zuerst Nationalsozialist und dann erst Antisemit" (S. 40).

Eine Reihe von Artikeln widmet sich dem Thema der "Vergangenheitsbewältigung". Polen, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland stehen im Brennpunkt, Letztere auch hinsichtlich des Völkermords an den Sinti und Roma. Werner Bergmann steuert einen informativen Überblick über die "Aufarbeitung des Antisemitismus" in Westdeutschland bei, der zeigt, dass es unmittelbar nach Kriegsende zwar zu nicht wenigen (alliierten) Prozessen kam, aber das Eingeständnis einer Mitschuld nur von wenigen Deutschen kam. Die Gewährung von Wiedergutmachung konnte nach Gründung der BRD nur gegen Widerstände von rechts und links (KPD) durchgesetzt werden. Die Wende in der "Vergangenheitspolitik" zu Gunsten einer stärkeren Aufarbeitung datiert Bergmann auf die Sechzigerjahre, was insbesondere am Generationenwechsel lag. Ein Einstellungswandel der Zeitgenossen des Nationalsozialismus hingegen ist nur in geringerem Maße feststellbar gewesen.

Zwei Beiträge rubrizieren unter "Varia". Yehuda Bauer plädiert für eine vermehrte Erforschung von unbewaffnetem jüdischen Widerstand in Osteuropa. Das Spektrum dessen, was dies im Einzelnen sein konnte, ist ähnlich breit wie beim Konzept "Resistenz" in der Forschung zur deutschen Opposition gegen den NS-Staat angelegt. Bauer schlägt als Definition vor: "Man kann darunter jegliche Aktivität verstehen, die den Absichten der deutschen Besatzungspolitik entgegengesetzt war" (S. 334), z. B. organisierter Lebensmittelschmuggel. Die Tragfähigkeit dieses Vorschlags wird erst die Praxis zeigen.

Bernd Rother, Berlin





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