Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Stefanie von Schnurbein, Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe "arteigener" Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Königshausen & Neumann, Würzburg 2001, 450 S., brosch., 98 DM.
Um Ort und Rang der in diesem Sammelband vorliegenden und - um es gleich vorwegzunehmen - wegweisenden Forschungsleistungen in der Forschungslandschaft zu beschreiben, ist es gar nicht notwendig, einmal mehr polarisierend auf den kulturhistorischen Paradigmenwechsel einzugehen: dies um so weniger, als die hier versammelten Beiträge aus Veranstaltungen der letzten zehn Jahre hervorgegangen sind und damit noch in die Spätphase der sozialhistorischen Diskurshegemonie fallen. Zudem werden bei nicht wenigen Themen die Bezüge zu genuin sozialhistorischen Fragestellungen und erkenntnisleitenden Instrumentarien u.a. der Modernisierungsgeschichte deutlich: die Herausgeber sprechen im Untertitel nicht ohne Grund von den "Krisen der Moderne".
Das Thema der "völkischen" bzw. aus "rassischer" Perspektive: "arteigenen" Religion seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gehört zu jenen klassischen Schnittstellenthemen, die sehr verschiedene inhaltliche und methodische Fragestellungen zusammenbringen. So kann man von Fritz Sterns "Kulturpessimismus" her im Hinblick auf Mentalitätsgeschichte und intellectual history fragen, welche positiven Konzepte der "Deutschgläubigkeit", des "arischen Christentums" und des "völkischen" Germanenkults auf die von Paul de Lagarde, Julius Langbehn und Houston Stewart Chamberlain vorgetragene Kritik am sinnentleerten religiösen Haushalt des deutschen Intellektuellen gegen Ende des 19. Jahrhunderts reagierten; man kann sich das Register von Kurt Sontheimers Schlüsselwerk über "Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik" vornehmen und zeitgeschichtliche intellektuelle Netzwerkforschung zu den Protagonisten des "völkischen" Denkens der Zwischenkriegszeit im Hinblick auf die "deutsche Revolution" des Nationalsozialismus betreiben; man kann mit Wolfgang Altgeld nationalismusgeschichtlich nach den nationalreligiösen Zügen im deutschen Nationalismus und der eigentümlich protestantischen Textur dieser Metaideologie sowie dem protestantischen Habitus ihrer deutschen Multiplikatoren auf Kanzeln und Kathedern fragen und dies ist lediglich eine Auswahl der möglichen Zugänge zum Thema, die sich inhaltlich auf den Erkenntnisgegenstand der Geschichte der politischen Kultur und somit methodisch auf die Geschichts- und Sozialwissenschaften beschränkt und ein Zentralanliegen der Zeithistoriker: die Frage nach dem intellektuellen Wurzelwerk des Nationalsozialismus und dem "normalen" Vorstellungshorizont "völkisch" sozialisierter Nationalsozialisten, noch gar nicht berücksichtigt.
Dass der Forschungsgegenstand "völkischer" Religiosität auch Kirchen- und Christentumshistoriker, Philosophen und Literaturwissenschaftler reizt, belegt der vorliegende Band eindrucksvoll. Die Wege von der Nietzsche-Rezeptionsforschung zur Untersuchung der Säkularisierungsmuster im protestantischen Deutschland, von der Frage nach den mehr oder weniger kunstreligiösen Sinngebungssubstituten in Form des wiederbelebten Wotankults und/oder des "rassisch" aufgeladenen Extremnationalismus zur Frage nach der dogmatischen Entwicklung der posthistoristischen evangelischen Theologie sind kurz. Die auf die Einleitung von Justus H. Ulbricht folgenden sechzehn Einzelbeiträge hier zusammenzufassen, ist weder möglich noch dem Kompendiencharakter des Sammelbandes angemessen. Die Autorinnen und Autoren behandeln u.a. religionswissenschaftliche, begriffs-, mentalitäts-, frauen- und werksgeschichtliche Dimensionen (H. St. Chamberlain), organisationsgeschichtliche Aspekte des "völkischen" Spektrums, wissenschaftsgeschichtliche Linien der germanischen Altertumskunde, Aspekte der anthroposophischen Rassentheorie, der nationalsozialistischen "Feiergestaltung" auf "völkischer" Grundlage im Amt Rosenberg und der Verwandlung des "völkischen" Spektrums nach 1945.
Ulbrichts einleitender Forschungsbericht ist zugleich ein solider und umfassender Quellen- und Literaturbericht, seine erkenntnisleitende Fragestellung nach "völkische[r] Religion als kulturintegrative[m] Projekt deutscher Intellektueller der Jahrhundertwende" erweist sich als tragfähige Grundlage für seine "Problemgeschichte ,arteigener Religion". Sie bietet auch Material für noch zu stellende wissenschaftsgeschichtliche Fragen des Zusammenhangs zwischen einer Fehleinschätzung Max Webers bezüglich der für seine Begriffe vielleicht unvernünftigen, aber gleichwohl omnipräsenten neureligiösen Bedürftigkeit seiner deutschen intellektuellen Zeitgenossen und der auffälligen Ausklammerung des Themas religiöser Identität bei seinem verspäteten Schüler Hans-Ulrich Wehler. Als außerordentlich gehaltvoll erweist sich Rainer Herings Beitrag über "Säkularisierung, Entkirchlichung, Dechristianisierung und Formen der Rechristianisierung bzw. Resakralisierung in Deutschland". Hering gelingt eine überzeugende, Perspektiven eröffnende Analyse der christentumsgeschichtlichen Muster von Entkirchlichung und Rechristianisierung mit Blick auf den sozialen Wandel vom Kaiserreich zur Bundesrepublik: genau dies war bei vielen rein theologie- oder liturgiegeschichtlich orientierten Darstellungen aus dem Bereich der Kirchengeschichte häufig der wunde Punkt, von der notorischen methodisch-theoretischen Verspätung und den ausgeprägten Exklusivitätsneurosen bei manchen evangelischen Kirchenzeithistorikern ganz abgesehen. Herings Beitrag zeigt exemplarisch, wie eine Sozialgeschichte von Kirche und Christentum funktionieren kann.
Zur Aufmachung des Bandes bleibt noch anzumerken, dass ein Gesamtliteraturverzeichnis den Kompendiencharakter noch deutlicher unterstrichen hätte. Das ist allerdings auch der einzige Kritikpunkt an diesem rundherum gelungenen Buch.
Rolf-Ulrich Kunze, Frankfurt am Main