ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Martin Kirsch/Pierangelo Schiera (Hrsg.), Verfassungswandel um 1848 im Europäischen Vergleich (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Band 38), Duncker & Humblot, Berlin 2001, 408 S., brosch., 192 DM.

Der Tagungsband, an dem Historiker und Juristen aus neun europäischen Ländern mitgewirkt haben, widmet sich den "Veränderungen und Entwicklungsbedingungen" der Verfassungen um das "Jahr des Völkerfrühlings" 1848 in Europa. Die Beiträge sind locker in vier Teile gegliedert, deren erster "Europäische Aspekte des Verfassungswandels um 1848" einige Ansätze einer Vergleichsperspektive skizziert. Pierangelo Schiera und Martin Kirsch plädieren für eine Erweiterung des Fokus über das kodifizierte Normensystem der Verfassungstexte hinaus auf soziale Aspekte der liberalen Bewegung, dem Ideen- und Wissenshintergrund der Protagonisten. Einen Faktor des intellektuellen Koordinatensystems führt De Francesco in einem Beitrag über "Föderale Konzeptionen im europäischen Denken" ins Feld, der die polemische Abgrenzung von der Französischen Revolution und der Hegemonie Napoleons als Bestandteil des politischen Selbstverständnisses des Liberalismus in den Ländern Europas als bislang unterschätzten Mechanismus vorstellt.

Überwiegend werden die Akteure der Geschehnisse im engeren Sinne, d.h. die Wortführer der Bewegungen und deren Forderungen auf der einen Seite, die Regierungen und deren Reaktionen auf der anderen, in den Blick genommen. Da es sich bei der Themenstellung um eine historische Entscheidungssituation handelt, zudem auf einen kleinen Zeitrahmen beschränkt, ist die Fokussierung auf die politische Ebene in der Untersuchung verständlich, wenn nicht unvermeidlich.

Auch der zweite Teil, dessen Überschrift "Wechselverhältnis von Verfassung und Gesellschaft in den Staaten Europas" eine stärker sozialgeschichtliche Orientierung vermuten ließe, ist an der politisch-administrativen Akteursebene ausgerichtet. Hervorzuheben ist das Bemühen der Autoren, geläufige Deutungsmuster zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren. So setzt sich z.B. Heinrich Best mit der marxistischen These auseinander, die Revolution 1848 sei das Resultat eines ökonomischen Interesses der bürgerlichen Klasse. Er zeigt, dass das Abstimmungsverhalten der Unternehmer in der Nationalversammlung der Paulskirche keinerlei Kapitalinteresse – im Sinne einer Gegnerschaft zu sozialpolitischen Maßnahmen – erkennen lässt. Hans Boldt empfiehlt auf der Grundlage eines erweiterten Begriffs des Konstitutionalismus, der diesen generell als verfassungsrechtliche Begrenzung der fürstlichen Gewalt versteht, von der groben Unterscheidung zwischen Scheitern und Durchsetzung des liberalen Verfassungsprinzips weg zu kommen, weil das Paradigma einer sukzessiven Entwicklung mit Kompromissen und Zugeständnissen auf beiden Seiten für die europäische Verfassungsgeschichte weit eher zutrifft als das Ordnen der Geschehnisse anhand des Gegensatzes Revolution oder Reaktion. Vor dem Hintergrund einer solchen Differenzierung, die eine "konservative Modernisierung" nicht direkt als Fehlschlag versteht, relativiere sich auch die These von der Rückständigkeit der ost- und mitteleuropäischen Verfassungen gegenüber Westeuropa, wie Arthur Schlegelmilch in einer Untersuchung über die konstitutionellen Systeme in Österreich und Preußen zeigt. Das Ergebnis größerer Übereinstimmung als gemeinhin unterstellt, ergibt auch ein Vergleich Frankreichs und Preußens zwischen 1862-1890. Der Aufsatz von Martin Kirsch setzt sich mit den retardierenden Folgen des Charismas Bismarcks für den parlamentarisch-demokratischen Verfassungsstaat in Deutschland auseinander und macht deutlich, dass die Dominanz der personalen Herrschaftselemente sich in Frankreich unter Napoleon III. ähnlich verhielt wie in Preußen.

Der dritte Teil "Verfassungsrecht und Rezeption" widmet sich stärker dem kodifizierten Recht. In Gestalt des vielfältigen Transfers von Verfassungsnormen in ganz Europa - insbesondere die belgische Verfassung aus dem Jahr 1831 wurde häufig exportiert - manifestiert sich der Konstitutionalismus als Rechtssystem einer im besten Sinne europäischen Bewegung. Durch András Gergely wird die ungarische Verfassungsgeschichte erstmals in ihrem europäischen Kontext betrachtet. Die Beiträge des vierten Teils thematisieren den Zusammenhang zwischen der nationalen und der Verfassungsfrage, die einander implizieren und nirgends in Europa isoliert lösbar waren, so dass der Erfolg der Verfassungsforderung maßgeblich von der Bewältigung des Nationalitätenproblems abhing, wie nicht nur am Beispiel Deutschlands, sondern auch für Piemont-Italien, Österreich-Ungarn mit dem Balkanraum sowie für Dänemark und die Konflikte um Schleswig-Holstein gezeigt wird.

Die detaillierten Schilderungen und vergleichenden Studien machen bei allen Unterschieden in den einzelnen Ländern und Regionen die europäische Dimension deutlich: Mit dem Jahr 1848 brachte sich eine europäische Öffentlichkeit zur Geltung, die zur diskursiven Grundlage für die um sich greifende Bewegung und den normativen Druck auf die monarchischen Regierungen wurde. Neben der Übertragung der Ideen und Normen des Konstitutionalismus ist ferner die Trägerschaft der Bewegung, in Gestalt der neuen bürgerlichen Eliten – nicht der Volksmassen – als europäische Gemeinsamkeit zu nennen. An den Grenzen des europäischen Kontinents verlieren sich die Parallelen und Konstanten. Im Südwesten wie im Osten Europas ist das Bürgertum schwach. Insbesondere die Grenze zum oströmischen Rechtsraum, dem die Tradition Westroms – das Römische Recht, die Dualität von weltlicher und kirchlicher Macht und die Ständegesellschaft – fehlte, wird auch für die Verfassungsbewegung zunächst zur Barriere.

Gerade vor dem Hintergrund der Osterweiterung der EU sind die Arbeiten über den Balkanraum und Ungarn verdienstvoll, weil sie die Kontinuität zum Osten Europas, aber auch die Grenzen der abendländischen Rechtstradition veranschaulichen.

Angesichts der voranschreitenden europäischen Integration, die im Begriff ist, in eine europäische Verfassung zu münden, ist der Band ein zu begrüßender Beitrag für die noch in ihren Anfängen steckende vergleichende Verfassungsgeschichte Europas. Deren Leistung besteht in der Ergänzung der umfangreichen politikwissenschaftlichen Verfassungskomparatistik um die Perspektive auf die Verfassung als historisch gewordene und gesellschaftlich bedingte Institution, nicht nur als abstraktes und geschlossenes Normengefüge.

Annekatrin Gebauer, Neustadt / W.





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