ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, Verlag C.H. Beck, München 2001, 536 S., Ln., 78,50 DM.

Das Fazit aus Wilhelm Bleeks Blick zurück auf „sieben Jahrhunderte, in denen Politikwissenschaft an deutschen Universitäten„ gelehrt wurde, ist das engagierte Plädoyer, die Wissenschaft von der Politik auch und gerade in ihrer älteren Geschichte für die „Selbstreflexion der Disziplin„ in Anschlag zu bringen. Das historische Verständnis des Faches lässt die Politikwissenschaft im gegenwärtigen modernen Sinne mit der Bundesrepublik beginnen. Die ältere Lehre von der Antike bis in das 19. Jahrhundert wird mit der Selbstgewissheit eines methodischen Exklusivanspruchs gerne als normativer und spekulativer Ballast abgetan. Angesichts des Raumes, den die Methodik im Paradigma der Disziplin einnimmt, ist die Geschichtsvergessenheit der heutigen Politikwissenschaft jedoch fragwürdig. Denn die Gefahr, dass methodologische Programmatik zum freischwebenden und unfruchtbaren Postulat wird, lässt sich durch die Kenntnis der Geschichte, das Wissen um das Bewährte und Ergiebige vermeiden. Bedenkenswert ist vor allem das Ergebnis der Betrachtung, dass die Diskontinuität im Selbstverständnis mit der Realgeschichte nicht übereinstimmt. Parallelen und Kontinuitäten in Themenstellung, Perspektive und Funktion des Faches ergeben sich vor allem durch Bleeks „multidisziplinäre„ Sicht auf die Wissenschaft von der Politik, die teils in der praktischen Philosophie, teils in der Rechtswissenschaft oder auch in den alten „Policey- und Kameralwissenschaften„ angesiedelt war.

Die Stärke des Buches besteht weniger in historischen Entdeckungen als in einer Zusammenfassung und vor allem Bilanzierung der einschlägigen Erkenntnisse. Von den verschiedenen möglichen Zugängen zur Wissenschaftsgeschichte, die Bleek skizziert (Ideengeschichte, Gelehrtengeschichte, Politikgeschichte, Universitäts- und Sozialgeschichte), liegt der Schwerpunkt der Perspektive weniger bei der gängigen Ideengeschichte als in der Verknüpfung der Entwicklung des Faches mit der Universitäts- und Politikgeschichte. Für die Politikwissenschaft ist dieser Fokus auf Grund ihrer besonderen Nähe zur Politik sinnvoll. In Gestalt der Bedingungen der Freiheit des Geistes, die das politische System als Voraussetzung für eine fruchtbare Reflexion für Politik als wissenschaftlichen Gegenstand gewährleisten muss, weist Bleek die besondere Verbindung zur praktischen Politik auf. Für die jüngere Vergangenheit zeigt er, dass darüber hinaus auch in einem freiheitlichen System eine starke Abhängigkeit von den Konjunkturen der Themen- und Problemstellungen in der Politik besteht – sowohl im positiven Sinne eines Reflexionsforums für wichtige politische Fragen als auch in negativer Hinsicht als besondere Empfänglichkeit für Ideologisierungstendenzen.

Die Darstellung der Geschichte beginnt mit einer Würdigung des „Stammvaters der Politikwissenschaft„ Aristoteles. Bleek skizziert die Stellung der älteren Lehre der Politik im Mittelalter in der Artistenfakultät bei der praktischen Philosophie sowie im Bereich der juristischen Fakultäten. Er stellt die Autorität des Aristoteles als progressives und säkulares Gegengewicht zur christlichen Dogmatik und wichtigen „Geburtshelfer„ zur Wiederbelebung eines eigenständigen politischen Denkens heraus, das zunächst philosophisch und normativ eine Reflexion über die „gute Ordnung„ war. Den Bemühungen, normative Intentionen mit den heute dominierenden deskriptiven Fragestellungen zu verknüpfen, wie in den 60er Jahren von Seiten Wilhelm Hennis´, gilt Aristoteles noch immer als hervorragendes Exempel. Die Entwicklung in der frühen Neuzeit ist durch einen Säkularisierungs- und Ausdifferenzierungsprozess der politikwissenschaftlichen Fragestellung gekennzeichnet. Diese Tendenz setzt sich mit der Entstehung des modernen Verwaltungsstaates fort, wobei zunehmend Nützlichkeitserwägungen die ganzheitliche und normative Staatslehre durch Überlegungen zur Staatsklugheit, zur finanz- und kameralwissenschaftlichen Themenstellungen ergänzten. In dieser Zeit, zwischen dem Beginn des 16. und dem Ende des 18. Jahrhunderts, etabliert sich die Lehre von der Politik als eigenständige und vielfältig bearbeitete Fragestellung an den deutschen Universitäten. Während der Aufklärung und des aufkommenden Liberalismus geriet der Absolutismus und mit ihm der Begriff eines vielregierten und –verwalteten „Polizeistaates„ in die Defensive und mit ihm das entsprechende Verständnis von Politik. Statistik, Finanz- und Volkswirtschaftslehre lebten in den Nachfolgedisziplinen weiter. Für die Blüte einer Wissenschaft von der Politik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht Bleek den vormärzlichen Reformgeist, die auch von staatlicher Seite unterstützte Orientierung am Leistungsgedanken und das Ethos einer umfassenden Allgemeinbildung der Professoren des deutschen Idealismus verantwortlich. Nach 1848 beerbte die juristische Fakultät in Gestalt der allgemeinen Staatsrechtslehre die Fragestellung der älteren Politik. Im Rahmen der staatsrechtlichen Debatte in der Weimarer Republik bildeten sich z.B. in Hermann Hellers „Staatslehre„ wieder eigenständig politikwissenschaftliche Perspektiven heraus.

Bleek referiert die bekannten Zusammenhänge zwischen den Erfahrungen der NS-Herrschaft, der Sozialisierung der Wissenschaftler in der Emigration und der Gründungsphase der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik. Die Expansion durch die Bildungsreform der 60er und 70er Jahre, die Konjunktur der Disziplin im Zuge der Politisierung in der Studentenschaft und die Gefährdung der wissenschaftlichen Objektivität durch Radikalisierungstendenzen machen abermals die starke Abhängigkeit vom politischen Klima deutlich, die sich in „Hyperpolitisierung und Lagerbildung„ der verschiedenen Schulen niederschlug. Als Reaktion auf den Imageverlust in der Folge dieser Erscheinungen bemühte sich die Politikwissenschaft seit den 80er Jahren um eine Professionalisierung im Sinne einer „modernen Sozialwissenschaft„, die das Zurückdrängen der geisteswissenschaftlichen Bestandteile des Paradigmas, welche in der Gründungsphase der Politikwissenschaft in Deutschland noch dominant waren, fortsetzte. Die Politikwissenschaft adaptiert in ihrer Theorie- und Modellformulierung weitgehend die Methoden und Forschungsansätze der Soziologie. Die Erwartungen, die mit dem Modernismus einer strengen Methodenbewusstheit verknüpft waren, erfüllten sich aber nicht in vollem Umfang. Inzwischen hätten sich die „szientistischen Illusionen„ deutlich abgemildert. Im Zusammenhang der Erfahrungen mit den Errungenschaft und Grenzen des Paradigmas der letzten Jahrzehnte ist Bleeks Votum für eine Besinnung auf die Politikwissenschaft in Geschichte und Tradition richtig und hilfreich.

Im ganzheitlichen Ideal der humanistischen Bildung, im Vorrang des Bildungs- und Erkenntnisziels vor der Ausbildungsfunktion, in einem multidisziplinären Geschichts- und Selbstverständnis und schließlich in der Berücksichtigung auch der Fragestellungen der älteren Lehre von der Politik erblickt Bleek die günstigen Voraussetzungen für eine fruchtbare Entwicklung der Politikwissenschaft.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.


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