ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Dietrich Orlow, Common Destiny. A Comparative History of the Dutch, French and German Social Democratic Parties, 1945-1969, Berghahn Publ., Oxford 2000, 370 S., geb., 47 £.

Das Jahr 1945 markiert in der Geschichte der europäischen Sozialdemokratie einen tiefen Einschnitt, – darin sind sich fast alle Historiker der europäischen Arbeiterbewegung einig. In seiner breit angelegten komparatistischen Arbeit, die nicht nur eine Unmenge von Sekundärliteratur, sondern auch eine Fülle von Archivmaterialien auswertet, unternimmt Dietrich Orlow den Versuch, die Folgen dieser Zäsur für drei sozialdemokratische Parteien Europas zu analysieren.

Nach einem kurzen Überblick über die Geschichte und Traditionen der niederländischen, französischen und deutschen sozialdemokratischen Parteien vor 1945 (Kapitel 1), zeichnet Orlow in groben Zügen den Wandel aller drei westeuropäischen Gesellschaften hin zu modernen Dienstleistungsgesellschaften nach, wobei er Trends zur Säkularisierung, sozialen Mobilität, Verbürgerlichung und zum Neokorporatismus besondere Aufmerksamkeit schenkt (Kapitel 2).

Alle drei Parteien waren 1945 von dem Glauben beseelt, der demokratische Sozialismus stände kurz vor dem Durchbruch zur Hegemonie in Europa. Die Entwicklung in der Sowjetunion und in Osteuropa, der Ausbruch des Kalten Krieges und die nationalen Wahlergebnisse führten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren zu einer Desillusionierung über die Zukunftsperspektiven der eigenen Parteien und zu einer Suche nach alternativen Handlungsmöglichkeiten. Während die niederländische Partij van de Arbeid (PvdA) sich erfolgreich um Koalitionen mit bürgerlichen Parteien kümmerte und zielstrebig auf eine reformistische Umorientierung der Partei setzte, nahm die französische Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) zwar Regierungsverantwortung wahr, blieb allerdings ihrer alten ideologischen Zielsetzung eines „socialisme pur et dur„ treu. Die deutsche Sozialdemokratie (SPD) unter Kurt Schumacher nahm dagegen eine starre Oppositionshaltung ein, wobei es innerhalb der Partei durchaus wichtige Strömungen gab, die frühzeitig für eine konstruktivere Politik plädierten, die die politischen und sozioökonomischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit stärker berücksichtigen würden (Kapitel 3).

Die nächsten drei Kapitel beschäftigen sich ausführlich mit der Zeit bis Mitte der 1950er Jahre: Kapitel 4 analysiert vor allem die organisatorische, programmatische und wahlsoziologische Entwicklung der drei Parteien, Kapitel 5 konzentriert sich auf die Entwicklung innenpolitischer Politikvorstellungen in den Bereichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, Kirchenfragen, Kolonialpolitik und Verteidigungspolitik, während Kapitel 6 die auâenpolitische Ausrichtung der sozialdemokratischen Parteien in den Vordergrund rückt. Während in allen drei Parteien die atlantische Ausrichtung nach kurzer Zeit Vorstellungen von einem dritten Weg zwischen sowjetischem Kommunismus und amerikanischem Kapitalismus verdrängte und ein ausdrückliches Bekenntnis zu Internationalismus und Europa zum Gemeinplatz sozialdemokratischer Programme wurde, gab es auch zahlreiche Bereiche, in denen die drei sozialdemokratischen Parteien Schwierigkeiten hatten, zu gemeinsamen Positionen vorzudringen: ihre Haltungen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) oder zum Schumannplan etwa blieben sehr verschieden.

Die zweite Hälfte der 1950er Jahre wird dann im 7. Kapitel abgehandelt, wobei Orlow hier nacheinander erneut auf organisatorische Änderungen, ideologische Debatten, Wahlergebnisse sowie innen- wie auâenpolitische Politikvorstellungen eingeht. In dieser Zeit, in der der Traum von einem sozialistischen Nachkriegseuropa endgültig ausgeträumt war, bemühten sich alle drei Parteien mit durchaus unterschiedlichem Erfolg darum, sich in der kapitalistischen Nachkriegsordnung Europas zurechtzufinden. Das letzte substantielle Kapitel der Arbeit widmet sich dann den 1960er Jahren, die in Deutschland den endgültigen Durchbruch zum Reformismus bringen sollten. In den Niederlanden wurde die reformistische Grundorientierung trotz einer starken Herausforderung durch die innerparteiliche Gruppierung „Nieuwe Links„ letztendlich beibehalten. Nur in Frankreich scheiterte die Modernisierung der SFIO, was letztendlich zur Selbstzerstörung der Partei und zur Neuformierung einer Parti Socialiste (PS) maâgeblich beitrug.

Jedes der acht Kapitel des Buches ist in sich vergleichend. Dietrich Orlow gelingt es hervorragend, die unterschiedlichen Erfahrungen der drei sozialdemokratischen Parteien miteinander zu verknüpfen und ihre Entwicklung in Beziehung zueinander zu stellen. Beeindruckend ist dabei immer wieder, in welchem Ausmaâ die drei Sozialdemokratien aufeinander Bezug nahmen. Auch wenn die vergleichende Geschichte hier im Vordergrund steht, deuten sich doch auch interessante Perspektiven für eine Geschichte des intellektuellen Transfers zwischen den Sozialdemokratien Europas an.

Bei aller Bewunderung für die beeindruckende Gesamtleistung des hier vorgelegten Bandes seien allerdings auch einige kritische Einwände gestattet. Der Autor bekennt sich ganz offen zu einer teleologischen Perspektive auf sein Thema: die Entwicklung eines sozialdemokratischen Reformismus und der Abschied vom Marxismus wird als Grundvoraussetzung für den Erfolg sozialdemokratischer Parteien nach 1945 dargestellt. Dabei interessiert den Autor vor allem der komplexe und vielschichtige Prozess eines mehr oder weniger langsamen Abschieds von der Klassenpartei und dem Aufbau von schichtenübergreifenden Volksparteien. Auf Orlows Erfolgsskala erscheint dabei die PvdA als besonders erfolgreich, da sie sich frühzeitig und relativ unproblematisch in Richtung Reformismus und Pragmatismus umorientierte. Während die SPD nach einem ebenso langwierigen wie schmerzhaften Lernprozess nachzog, unterschrieb die SFIO durch ihre Unfähigkeit zum Wandel ihr eigenes Todesurteil. Eine solche reformistische, am Wahlerfolg und an Regierungsbeteiligungen sozialdemokratischer Parteien ausgerichtete Perspektive wird der sozialdemokratischen Erfahrung der langen 1950er Jahre nur bedingt gerecht. Schlieâlich hatte die so lernunfähige SFIO in dieser Zeit auch erhebliche Erfolge als Regierungspartei zu verzeichnen. Die PvdA hatte, trotz ihres Reformismus, kaum Unterstützung bei den bürgerlichen Schichten des Landes (hier kann man eine deutliche Parallele zur britischen Labour Party feststellen). Und den Erfolg der SPD muss man nicht unbedingt allein auf die ideologischen Reformen der späten 50er Jahre zurückführen. Die dominierende ideologische Perspektive der Argumentation des Buches wird den Erfahrungen von sozialdemokratischen Aktivisten an der Basis nicht gerecht werden können, da sie sich mehr oder weniger auf andere, „höhere„ Politikebenen beschränkt. Das ist durchaus legitim, sollte aber bei der Beurteilung der Gesamtperspektive berücksichtigt werden.

Jedem vergleichenden Historiker sind sprachliche bzw. terminologische Schwierigkeiten allgegenwärtig. Oft ist es nicht leicht, sprachliche Äquivalente zu finden, und die Existenz von Homonymen macht die Sache auch nicht gerade einfacher. Orlow vermeidet es, diese Probleme direkt anzusprechen, aber er erleidet auch in seiner Analyse kaum Schiffbruch mit diesem Problem. Nur in einem Fall ist seine Wortwahl unglücklich: im Englischen scheint mir der Begriff „labor party„ kein Äquivalent für das deutsche Volkspartei und das französische Parti travailliste. Hier wäre eine eingehendere Diskussion dessen, was in jedem der drei Fälle sich hinter einer bestimmten Wortwahl verbirgt, sinnvoller gewesen.

Orlow begründet in seiner Einleitung die Begrenzung des Vergleichs auf die drei gewählten Parteien. Obwohl ich einer Eingrenzung des Vergleichs in jedem Fall zustimmen würde, scheint mir Orlows Argumentation gerade im Hinblick auf die britische Labour Party nicht ganz einleuchtend. Wie ich andernorts zu zeigen versucht habe, war die erzreformistische Labour Party in vieler Hinsicht den nordwesteuropäischen Sozialdemokratien Europas verwandter als das viele herkömmliche Typologien der europäischen Arbeiterbewegung wahrhaben wollen. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung der europäischen Sozialdemokratien nach 1945 wäre ein Vergleich mit der Labour Party sehr sinnvoll, figurierte diese doch in mancher Hinsicht als Vorbild für andere sozialdemokratische Parteien. Die Leistungen der Labourregierungen nach 1945 ebenso wie der theoretische Beitrag von Vordenkern wie Anthony Crosland wurden in vielen sozialdemokratischen Parteien des Kontinents bereitwillig rezipiert.

Aber insgesamt sollten diese vorsichtigen kritischen Einwände doch nicht davon ablenken, dass für all diejenigen, die an einer vergleichenden Geschichte europäischer sozialdemokratischer Parteien interessiert sind, dieses Buch Pflichtlektüre sein wird. Orlow setzt dabei zugleich Maâstäbe für die zukünftige vergleichende Geschichtsschreibung europäischer Arbeiterbewegungen.

Stefan Berger, University of Glamorgan


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