ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland (Die Deutschen und ihre Nation), Siedler Verlag, Berlin 2000, 736 S., 152 Abb., geb., 98 DM.

Die „erste vergleichende Geschichte des geteilten Deutschland von 1945 bis 1990 verspricht der Klappentext dieses voluminösen Buches. Ob es wirklich eine vergleichende Geschichte ist und sein soll, lässt sich kritisch diskutieren. Wie das überhaupt machbar ist, bleibt eine methodische Herausforderung der Zeitgeschichte. Ohne Zweifel ist K. jedoch ein großer Wurf gelungen, der diese Herausforderung ernst genommen hat. Der in der gleichen Reihe vor zehn Jahren veröffentlichte Band, der allerdings nur bis 1961 reichte, ist damit überholt.

Welches sind die gedanklichen Leitlinien, wie gelingt dem Autor die Verklammerung beider Teile, die so unterschiedliche Entwicklung genommen haben und doch auf besondere Weise zusammengehören? Das wird nicht programmatisch in der Einleitung entwickelt, sondern erschließt sich dem Leser erst im Verlauf der Darstellung, die eine konventionelle politische Geschichte weit hinter sich lässt. Sie stellt hohe Ansprüche, setzt erhebliche Vorkenntnisse voraus und will auch kaum am Typus von „Gesamtdarstellung„, in der schnell Ereignisse und Zusammenhänge nachzulesen sind, gemessen werden. K. präsentiert statt dessen eine auf hohem Niveau angesiedelte Reflexion deutscher Nachkriegsgeschichte, deren zentralen Bezugspunkt die Katastrophe von 1945 bildet. Der 8. Mai 1945 wird als Ende und Anfang in den Kontext des 20. Jahrhunderts gestellt. „Die beiden so gänzlich ungleichen Hälften, in die das 20. Jahrhundert für Deutschland geteilt ist, haben viel miteinander zu tun. Es war die Katastrophe, die Deutschland demokratiefähig gemacht hat. Es war die Katastrophe, die Deutschland gelehrt hat, sich in die europäische Staatengesellschaft einzufügen. Es war die Katastrophe, die Deutschland gezwungen hat, sich selbst neu zu definieren. Das heißt nicht, dass das Gelingen deutscher Geschichte in der zweiten Jahrhunderthälfte im vollständigen Scheitern, das ihm vorausging, schon angelegt gewesen sei. Die Katastrophe war nur eine notwendige, sie war keine hinreichende Bedingung des Lernens„ (S. 10).

Dies sind die Kernsätze des Konzepts. Die Nutzung der Chance der Katastrophe und die extrem ungleiche und willkürliche Verteilung der Folgelasten werden damit zu Leitlinien, denen die Darstellung folgt. 1945 wird als Zäsur wieder aufgewertet, nachdem Sozialhistoriker mit Fragen nach übergreifenden, längerfristigen Kontinuitäten die Tiefe dieses Einschnitts relativiert haben und die Zäsur von 1989/90 ebenfalls zur Verschiebung des Blicks geführt hat. K. spricht solchen Einwänden nicht ihre Berechtigung ab, verweist aber treffend darauf, dass auf unterschiedlichen Ebenen geschichtlichen Geschehens „nicht die gleichen Bewegungsgesetze„ gelten, dass es gleichwohl Zäsuren gebe, die „viele historische Schichten durchschneiden„. 1945 gehört dazu. Die Komplexität deutscher Nachkriegsgeschichte bleibt damit dialektisch auf 1945 bezogen: Hier beginnt wie bei keinem anderen europäischen Volk eine neue Geschichte, die aber in einem einzigartigen Sinne eine Vorgeschichte hat. Mit diesen Überlegungen wird ein Schlüsselproblem deutscher Zeitgeschichte umschrieben: Die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR sind Nach-Geschichten des „Dritten Reiches„, aber sie gehen darin in keiner Weise auf.

Nachdem die gemeinsame Ausgangssituation sowohl im Hinblick auf die Ohnmacht gegenüber den Siegern als auch hinsichtlich der gleichen drängenden Problemlagen dargestellt worden ist, „zweierlei Anfänge somit den ähnlichen und unterschiedlichen Start beider Gebilde in paralleler Perspektive verdeutlichen, macht die Abfolge der nächsten Kapitel das konzeptionelle Grundproblem einer gemeinsamen Darstellung schnell deutlich. Es gibt keine plausible übergreifende Periodisierung. Auch die Gewichtung der Teile, die der Bundesrepublik und der DDR gewidmet sind, fällt deutlich unterschiedlich aus. Hier schlägt die Perspektive durch, die erst nach 1989 wirklich erkennbar wurde: Wir haben es nach K. mit zwei verschiedenen Geschichten zu tun, „einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft. An der zweiten interessiert vor allem, warum sie keine Zukunft hatte„ (S. 677). Eine teleologisch gefärbte Siegergeschichte wird damit jedoch nicht etabliert, auch wenn insgesamt deutlich erkennbar ist, dass der Autor ein Westdeutscher ist und einen unmittelbareren Zugang zur westdeutschen als zur ostdeutschen Geschichte hat. Was an dem Buch fasziniert, ist vielmehr gerade der Verzicht auf Determinismus trotz der Kenntnis der Folgen bestimmter Ereignisse, die „Verflüssigung„ des historischen Geschehens durch immer wieder eingeschobene Fragen und abwägende Erörterungen, auch durch häufige Hinweise, dass vieles nicht zu entscheiden ist. Nicht in neuen Fakten oder fundamental neuen Zusammenhängen liegt der Reiz der Darstellung, sondern eben in dieser multiperspektivischen Reflexion. Die quer zur Chronologie liegende, systematische Gliederung des Bandes kommt dem entgegen, bringt allerdings unvermeidliche Probleme mit sich, weil die ersten, chronologisch ausgerichteten Kapitel im wesentlichen politische Geschichte bieten, denen dann systematische, institutionen-, gesellschafts- und kulturgeschichtliche Längsschnitte folgen. Der politikwissenschaftliche Blick scheint mir schärfer ausgeprägt als der gesellschaftshistorische, aber längst nicht so erdrückend wie etwa in der 5-bändigen Geschichte der Bundesrepublik aus den 80er Jahren. Die politischen Standpunkte und Urteile des Autors werden durchaus erkennbar, besonders nachdrücklich in der Kritik an Schriftstellern und Intellektuellen in beiden Staaten, die Urteile bemühen sich jedoch stets um Differenzierung und Balance und wirken nie plakativ.

Peter Bender hat wohl zu Recht in einer Besprechung in der ZEIT kritisiert, dass die Geschichte der DDR und der Ostdeutschen nur allzu knapp nachgezeichnet werde, eben weil das Interesse des Autors der Frage gilt, zu erklären, warum die DDR gescheitert ist. Selbst wenn man diese Leitfrage als Begründung für das Ungleichgewicht akzeptiert, bleibt für mich ein anderes Defizit gravierend: Zu einer Geschichte des geteilten Deutschlands gehören nicht nur die Gründe für Erfolg und Scheitern, sondern auch die Besonderheiten, die das wechselseitige Verhältnis dieser beiden Teile ausmachten. Dass die DDR-Geschichte ohne ihren großen Nachbarn im Westen nicht verständlich ist, lässt sich schwerlich bestreiten. Dass aber auch die innere und äußere Geschichte der Bundesrepublik auf vielen Feldern stark von der Nachbarschaft einer kommunistischen Diktatur geprägt worden ist, lässt sich aufgrund des neuen Quellenmaterials und eines nach 1989 veränderten Blicks jetzt schärfer erfassen. Die intendierten und ungewollten wechselseitigen Einflüsse und Abgrenzungsstrategien markieren ein Terrain, auf dem sich die spezifischen Formen der Zusammengehörigkeit beider Teile erörtern lassen. Diese Konstellation bleibt bei K. blass. Als Desiderat wird dieser Aspekt Historiker und Politikwissenschaftler noch eine Weile beschäftigen.

Vom souveränen, problemorientierten Zugriff, vom gedanklichen und sprachlichen Niveau und nicht zuletzt auch von der eindrucksvollen Bebilderung und Kommentierung her gehört K.‘s Buch jedoch insgesamt zu den gelungensten Versuchen, die sperrige Thematik einer deutschen Nachkriegsgeschichte in den Griff zu bekommen.

Christoph Kleßmann, Potsdam





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