ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Wallstein Verlag, Göttingen 2001, 688 S., brosch., 98 DM.

Das Konzentrationslager Mittelbau-Dora gilt in der Öffentlichkeit und auch in der Forschung bis heute vor allem als die geheimnisumwobene „Produktionsstätte der V-Waffen„. Die Vorstellung vom „Raketen-KZ„ entspricht jedoch nicht der historischen Realität, denn obwohl die Geschichte des Lagerkomplexes Mittelbau-Dora mit der Verlagerung der Raketenproduktion aus Peenemünde in das seit August 1943 von Häftlingen ausgebaute unterirdische Mitttelwerk im Kohnstein begann, war nach Aufnahme der Fertigung im Frühjahr 1944 nur eine Minderheit der KZ-Häftlinge unmittelbar in der Raketenherstellung beschäftigt. Die meisten Häftlinge mussten dagegen Zwangsarbeit auf den zahlreichen Baustellen in der Umgebung von Nordhausen leisten, die 1944/45 im Zuge der geplanten Untertageverlagerung der deutschen Luftrüstung eingerichtet wurden. Somit war das Konzentrationslager Mittelbau-Dora „ein ausgesprochenes ‚Bau-KZ’„ (S. 13).

Dies ist ein zentrales Ergebnis der Dissertation von Jens-Christian Wagner, die im Herbst 1999 von der Universität Göttingen unter dem Titel „Verlagerungswahn und Tod. Die Fiktion eines Rüstungszentrums und der KZ-Komplex Mittelbau-Dora 1943 – 1945„ angenommen wurde und jetzt in leicht gekürzter Fassung im Druck erschienen ist. Damit liegt eine beeindruckende Gesamtdarstellung der Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora vor, die dadurch gewinnt, dass sie nicht chronologisch aufgebaut ist, sondern systematisch einzelne Themenkomplexe untersucht: Nach einer ausführlichen Einleitung (I), die ein aufschlussreiches Sonderkapitel zur Quellenkritik des Häftlingsberichts enthält, gibt Jens-Christian Wagner zunächst einen Überblick über das „System der nationalsozialistischen Konzentrationslager im Krieg„ und dessen „Erweiterung durch Zwangsarbeit„ (II). Der Einsatz von KZ-Häftlingen in der deutschen Kriegswirtschaft hatte ab 1942 immer größere Bedeutung und ließ ein Netz von KZ-Außenlagern im gesamten Reichsgebiet und in den besetzten Nachbarländern entstehen. Seinen grausamen Höhepunkt fand der Häftlingseinsatz schließlich in der Untertageverlagerung der Rüstungsindustrie, wie sie besonders im Bereich des KZ-Komplexes Mittelbau-Dora – aber nicht nur dort – vorangetrieben wurde. Ein Blick auf „Wirtschaft und nationalsozialistische Gesellschaft im Südharz„ (III) zeigt allerdings, dass die Rüstungswirtschaft im Raum Nordhausen schon seit Mitte der 30er Jahre zum bestimmenden Wirtschaftsfaktor geworden war, in der seit Kriegsbeginn mehr und mehr ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene arbeiten mussten. Als im August 1943 die ersten KZ-Häftlinge eintrafen, war deshalb „die Präsenz von Zwangsarbeitern und Barackenlagern für die Bevölkerung längst zum Alltag geworden„ (S. 180).

Das bei Nordhausen errichtete Lager „Dora„ war zunächst ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Im Oktober 1944 wurde es jedoch zum Zentrum des nunmehr eigenständigen KZ-Komplexes Mittelbau-Dora, dessen Entwicklung und Struktur Jens-Christian Wagner in Kapitel IV seiner Studie detailliert beschreibt. Bei Kriegsende umfasste Mittelbau-Dora mehr als 40 Lager, deren Insassen in immer neuen, immer größeren und letztlich nie auch nur annähernd fertiggestellten Bauprojekten zur Untertageverlagerung von Rüstungsvorhaben eingesetzt wurden. Mindestens 20.000 KZ-Häftlinge fielen dem „Unternehmen Mittelbau„ zum Opfer, und sie „starben nicht in den nur in der Phantasie ihrer Planer vorhandenen Rüstungswerken, sondern auf den real existierenden Baustellen. [...] Das Hauptprodukt der Mittelbau-Lager waren nicht die noch heute mystifizierten V-Waffen, sondern vor allem eines: der Tod„ (S. 288).

Im folgenden Kapitel wendet sich Jens-Christian Wagner der Täterseite zu und beschreibt sowohl die Zusammensetzung des SS-Personals der Mittelbau-Lager als auch die durch die Lagerführer und Wachmannschaften den Häftlingen gegenüber ausgeübte Praxis des Terrors. Die Dimension der Gewalt, der Ausbeutung und des Elends im KZ-Komplex Mittelbau-Dora wird jedoch erst vollends in Kapitel VI deutlich, das die Arbeits- und Existenzbedingungen der Häftlinge in den Mittelbau-Lagern zum Gegenstand hat. Demnach bot die Arbeit in der Rüstungsproduktion bessere Überlebenschancen als die Arbeit in einem Baukommando, da in der Rüstungsproduktion beruflich qualifizierte und körperlich noch einigermaßen leistungsfähige Häftlinge benötigt wurden. Entkräftete Häftlinge wurden dagegen den Baukommandos zugeteilt, wo man auch noch den letzten Rest ihrer Arbeitskraft aus ihnen herausprügelte. Das Leben eines einzelnen Lagerinsassen galt wenig, weil der „Nachschub„ an Häftlingen, die aus anderen Konzentrationslagern nach Mittelbau-Dora kamen, nahezu unerschöpflich schien. Der (sinkenden) Leistungsfähigkeit eines Gefangenen entsprach auch seine Unterbringung, denn es gab innerhalb des Komplexes Mittelbau-Dora spezielle Lager für „Produktionshäftlinge„ und „Bauhäftlinge„ sowie „Sterbezonen„. Viele Häftlinge durchliefen daher vor ihrem Tod in immer kürzeren Abständen einen Leidensweg durch mehrere Mittelbau-Lager. Jens-Christian Wagner bezeichnet die von der SS durchgeführte „ständige Selektion und Weiterverlegung der zunehmend entkräfteten Häftlinge„ als mobile Selektion„, die es der SS und den von der Häftlingsarbeit profitierenden Firmen erlaubte, „bei minimaler Versorgung ein Maximum an Leistung aus den Häftlingen herauszupressen„ (S. 500). Zugleich wendet sich Wagner dagegen, diese Praxis in den Mittelbau-Lagern mit dem Begriff „Vernichtung durch Arbeit„ zu charakterisieren, da diese Formel „ein bewusst geplantes Vernichtungsprogramm suggeriert, das es so nicht gegeben hat. [...] Nicht ein wie auch immer geartetes Vernichtungsprogramm, sondern die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Häftlinge war die in den Mittelbau-Lagern praktizierte Logik des Todes. Dieser Logik entsprechend wurde der Tod der KZ-Insassen nicht angestrebt, als Folge der harten Arbeits- und Lebensbedingungen aber bewusst einkalkuliert„ (S. 500).

Abschließend analysiert Jens-Christian Wagner „Das KZ-System in der Tätergesellschaft„ (VII): Die im KZ-Komplex Mittelbau-Dora begangenen Verbrechen konnten den Einwohnern des Südharzes nicht verborgen bleiben, allein schon wegen der langen Kolonnen erschöpfter Häftlinge, die jeden Morgen durch die Straßen der umliegenden Ortschaften zu ihren Arbeitsplätzen und abends wieder zurück ins Lager getrieben wurden. Zudem arbeiteten KZ-Häftlinge und deutsche Zivilarbeiter auf den Baustellen und in den lokalen Betrieben häufig unmittelbar zusammen. Darüber hinaus gab es aber auch noch viele andere Berührungspunkte zwischen den Lagern und der Bevölkerung. Die KZ-Insassen, denen das Stigma des „Gemeinschaftsfremden„ und des „Arbeitsscheuen„ anhaftete, wurden von der Bevölkerung vielfach als Bedrohung wahrgenommen und hatten deshalb auch kaum Mitleid oder gar Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil: Nicht wenige Einheimische wurden zu „Mittätern„, indem sie etwa SS und Polizei bei der Jagd auf flüchtige Häftlinge unterstützten oder sich als Zivilbeschäftigte in den Betrieben und auf den Baustellen selbst an der Misshandlung von Gefangenen beteiligten. Die Mehrheit der Bevölkerung versuchte jedoch, einfach wegzuschauen und das sichtbare Unrecht nicht als solches wahrzunehmen. Diese Haltung wirkte nach Kriegsende fort und verhinderte in der Region lange Jahre eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des KZ-Komplexes Mittelbau-Dora sowie ein angemessenes Gedenken an die Opfer. In jüngster Zeit zeichnet sich hier aber ein Wandel ab, zu dem das Buch von Jens-Christian Wagner einen wichtigen Beitrag leistet.

Christian Scharnefsky, Berlin





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