ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Ulrich Ludewig, Dietrich Kuessner, „Es sei also jeder gewarnt„. Das Sondergericht Braunschweig 1933 – 1945. (= Quellen und Forschungen zur braunschweigischen Landesgeschichte, hrsg. vom Braunschweigischen Geschichtsverein, Band 36), Selbstverlag des Braunschweigischen Geschichtsvereins, Braunschweig 2000, 319 S., geb., 48 DM.

Man möchte angesichts einer anhaltenden Flut von Veröffentlichungen meinen, mittlerweile sei das Dritte Reich genugsam erforscht. Gelegentlich aber gibt es dann doch neue Funde oder neue Forschungen, die uns verdeutlichen, wo noch gravierende Lücken unseres Wissens bestehen oder bisher bestanden haben. Ein solcher Fund war das Klemperer-Tagebuch, das uns beklemmender, als es bisher geschehen war, die alltägliche Unterdrückung der Juden im Dritten Reich verdeutlicht hat und darüber hinaus einen eindrucksvollen Einblick in den Alltag und in die Denkweise der Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus geboten hat. Jetzt haben Hans-Ulrich Ludewig, Hochschullehrer an der TU Braunschweig, und Dietrich Kuessner, beide seit vielen Jahren mit Forschungen zur Zeitgeschichte im ehemaligen Land Braunschweig beschäftigt, eine Quellengattung ausgewertet, die kaum weniger aufschlussreich für den Alltag und die Mentalität im Dritten Reich ist als Tagebücher und Briefe, nämlich die Akten eines Sondergerichts, in diesem Falle des Braunschweiger Sondergerichts.

Diese Akten bieten eine Vielzahl von Aspekten. Man erfährt z.B. vom alltäglichen Meckern, von Witzen, vom Abhören von „Feindsendern„. Vom Schwarzschlachten ist die Rede, von Leuten, die sich dem Wehrdienst entzogen und von manifesten Gegnern des NS-Regimes. Man erfährt von Zusammenkünften der Kriegsgefangenen und der Zivilarbeiter. Natürlich wird vieles nicht aktenkundig. Hört man etwa von den Umständen, unter denen gemeckert worden ist, hat man den Eindruck, dies sei eine relativ verbreitete und normale Äußerung der Kritik gewesen, nur im Ausnahmefall durch eine Denunziation aktenkundig gemacht. Erweisbar ist das freilich nicht.

In der Friedenszeit sind vor dem Braunschweiger Sondergericht 996 Verfahren eingeleitet worden, fast alle wegen eines Verstoßes gegen die Heimtücke-Verordnung vom 21.3.1933 bzw. gegen das „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei„ vom 20.12.1934. Alle Arten von regimekritischen Äußerungen konnten unter Heimtücke fallen. In der Kriegszeit, als 6098 Verfahren anhängig wurden, dominierten dann die Verstöße gegen die „Volksschädlings-„ und gegen die „Kriegswirtschaftsverordnung„, also Versuche, sich in irgendeiner Weise den Einschränkungen der Kriegs- und Mangelwirtschaft zu entziehen, auch wenn „Heimtücke„ weiterhin eine wichtige Rolle spielte. Die Strafen waren z. T. drakonisch, aber Todesstrafen dominierten nicht. Diese erreichten ihren Höhepunkt im letzten Vierteljahr der NS-Herrschaft, als 8,1 % der Angeklagten mit dem Tode bestraft wurden. 1942 wurde diese Rate mit 7,5% fast erreicht. Daneben gab es Freisprüche, ungefähr 20% in den Friedensjahren, in den ersten Kriegsjahren noch über 10%. 1943 gab es am wenigsten Freisprüche, nämlich weniger als 5%.

Das Sondergericht diente dem Terror und trug so dazu bei, das System zu stabilisieren. Nach der Machtergreifung wurden Arbeiter für das Kleben von Wahlplakaten, für das Tragen von SPD- oder KPD-Abzeichen verurteilt, und wer immer in der Arbeiterbewegung aktiv gewesen war, hatte auch in späteren Jahren mit dem besonderen Argwohn des Regimes zu rechnen. Aber auch relativ vielen Angehörigen oder Sympathisanten der Deutsch-Nationalen galt die Verfolgung der Nationalsozialisten. Im Kriege wurde manchmal ein Exempel an Oberschichtangehörigen statuiert, um der breiten Bevölkerung zu zeigen, dass das Regime im Sinne der Volksgemeinschaft „Gerechtigkeit„ walten lasse, ohne auf soziale Stellung zu achten. Und schließlich gab es die reinen Terror- und Abschreckungsurteile. Unter ihnen ist in Braunschweig bis in die Gegenwart das Verfahren gegen Erna Wazinski am bekanntesten. Die 19jährige hatte nach einem verheerenden Bombenangriff einige Kleidungsstücke, die ihr nicht gehörten, aus dem zerbombten Haus an sich genommen, in dem sie gewohnt hatte. Die Todesstrafe war die Folge.

Das Sondergericht zeigte im übrigen durchaus Merkmale von Klassenjustiz. Der Diebstahl der ungelernten Rüstungsarbeiterin Erna Wazinski, die auch einmal in Fürsorgeerziehung gewesen war, wurde mit dem Tode bestraft, Bauern konnten für Unterschlagungen und Schwarzschlachtungen auf relative Milde hoffen. Für Delikte, die Polen und Russen das Leben kosteten, kamen westeuropäische Kriegsgefangene womöglich „nur„ ins KZ, wurden deutsche Arbeiter mit Gefängnis bestraft, während alte Parteigenossen, Bauern oder höhere Offiziere des Ersten Weltkriegs vielleicht ganz straffrei ausgingen. Die Urteilsbegründungen konnten beinahe beliebig zurechtgebogen werden. Die Einwirkungen von Partei und SS sind immer wieder greifbar.

Trotz aller Willkür gab es jedoch Reste von Rechtsstaatlichkeit. Zeugen wurden gehört, Beweise erhoben, mildernde Umstände gewürdigt, und es gab, wie gesagt, Freisprüche. Tüchtige Verteidiger konnten einiges für ihre Mandanten tun. Im Hintergrund der Sondergerichte stand jedoch die reine Willkür, nämlich der Maßnahmestaat mit der Gestapo und den KZs. Wer freigesprochen worden war, wer seine Strafe verbüßt hatte, auch wer überhaupt nicht angeklagt worden war, konnte trotzdem inhaftiert und in ein KZ eingewiesen werden, und der KZ-Aufenthalt war bei weitem schlimmer als eine noch so harte Zuchthausstrafe. Die von den Verfassern ausgebreiteten Fälle belegen das in reichlichem Maße. An Kriegsgefangenen sind sogar ohne jedes Gerichtsverfahren in aller Öffentlichkeit „Hinrichtungen„ vollzogen worden.

Es gehört zu den paradoxen Erscheinungen des Regimes, dass einer der härtesten Richter des Braunschweiger Sondergerichts, auf dessen Konto besonders zahlreiche Todesurteile gingen, wegen der Missachtung des Gerichts durch willkürliche KZ-Einweisungen und anderes in einen ernsthaften Konflikt mit der SS geriet. Die SS drohte dem Richter mit Inhaftierung, der Richter drohte seinem Hauptgegner in der SS mit Parteiordnungsverfahren und Amtsenthebung. Der Streit wurde durch die Versetzung des Richters „gelöst„. Offensichtlich hatte er die Unabhängigkeit der Justiz bewahren und rechtsstaatliche Prinzipien aufrecht erhalten wollen, so sehr er sonst mit dem Nationalsozialismus übereinstimmte. Dieser Konflikt war kein Einzelfall.

Eines der beschämendsten Kapitel des Buches beschäftigt sich mit den Folgen der Sondergerichts-Praxis nach 1945. Dass die Richter und Staatsanwälte der NS-Justiz relativ ungeschoren davon gekommen sind, ist bekannt und wird auch hier bestätigt. Noch empörender aber empfindet es der Rezensent, dass die Terrorurteile auch nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs in Geltung blieben. Revisionsanträge hatten nur teilweise Erfolg. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Unternehmer war verhaftet worden wegen des Verdachts der Heimtücke und des Verstoßes gegen das Kriegswirtschaftsgesetz. Bei der Vernehmung war er gröblich misshandelt worden. Bei der Verhandlung vor dem Sondergericht hatte er sich über dieses rechtswidrige Verhör beschwert, was ihm wegen Verleumdung eines Gestapobeamten zusätzlich neun Monate Gefängnis einbrachte. Das Dritte Reich überstand er in besonders berüchtigten Konzentrationslagern nur mit Glück. 1949 beantragte er die Annullierung der Strafe, die Verleumdungsstrafe wurde jedoch nur auf drei Monate Gefängnis reduziert. Erst in einer weiteren Instanz wurde sie aufgehoben.

Das vorliegende Werk verdeutlicht viele Aspekte des Alltags im Dritten Reich. Es zeigt das Neben- und Gegeneinander des sog. Normen- und des Maßnahmestaates und wirft nicht zuletzt ein Licht auf die Justiz nach 1945. Für unsere Kenntnis des NS-Staates ist es von großer Bedeutung.

Gerhard Schildt, Braunschweig





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