ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Ulrich Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 540 S., geb., 78 DM.

„Zumindest für Berufshistoriker ist es an der Zeit, ernsthaft auf eine Situation zu reagieren, in der die Behauptung, man könne ‚aus der Geschichte lernen’, ihre Überzeugungskraft eingebüßt hat. Eine ernsthafte Reaktion müsste bestimmt über die bloße Wiederholung apologetischer Redensarten und Gebärden hinausgehen und sich mit der Paradoxie befassen, dass Bücher über die Vergangenheit weiterhin eine wachsende Zahl von Lesern anziehen und dass die Geschichte als Thema wie als Fach in den meisten westlichen Erziehungssystemen unangefochten dasteht, während Professoren, Vertreter der Bildungsbehörden und Bezahler von Studiengebühren allesamt irgendwie spüren, dass die Rechtfertigungsdiskurse über die Aufgaben der Geschichte zu verknöcherten Ritualen verkommen sind. Vielleicht würden wir das schmückende Pathos dieser Diskurse vermissen, wenn sie aus Geschichtsbüchern und akademischen Festreden verschwänden; vielleicht wären wir betrübt, wenn die Vergangenheit für Quizsendungen kein Thema mehr wäre und aufhörte, als rhetorischer Bezugspunkt für manche Politiker eine Rolle zu spielen. Aber in praktischen Situationen verlässt sich niemand mehr auf historisches Wissen. Im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert gilt die Geschichte nicht mehr als solide Grundlage für Alltagsentscheidungen über finanzielle Investitionen oder die Bewältigung von Umweltkrisen, über Sitten des Sexuallebens oder Modevorlieben„ (S. 445).

So provokant formuliert der Literaturhistoriker Hans Ulrich Gumbrecht in seinem bereits 1997 in den USA erschienenen und erst jetzt ins Deutsche übersetzten Buch „1926 – Ein Jahr am Rand der Zeit„ unter dem bezeichnenden Kapitelüberschrift „Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war„ die These vom Ende der alltagspraktischen „Relevanz„ von Geschichte und der damit verbundenen Krise ihrer didaktischen Vermittelbarkeit – vielleicht ein Grund, warum das Buch erst jetzt in einem Land erschienen ist, dessen politische Kultur sich auf ihr „Lernen aus der Geschichte„ so viel zugute hält und sich ein nicht-didaktisches Verhältnis zur Geschichte kaum mehr vorstellen kann, darf oder will. Gumbrecht stellt damit im Grunde einfach die Frage, wie man nach dem Ende der „großen Erzählungen„ und dem Verblassen der großen geisteswissenschaftlichen Theoriegebäude überhaupt noch Geschichte „lehren„ kann – und suggeriert damit, dass die klassischen Antworten obsolet oder fadenscheinig geworden sind. Wenn sich also die großen Kausalitätsgebäude zunehmend als „dekonstruiert„ erweisen, wie kann man dann noch (Kultur-) Geschichte schreiben? Seine Antwort ist verblüffend einfach: Kehren wir zurück zu den Quellen, zu den sinnlichen Qualitäten, zur konkreten Lebenswelt der Vergangenheit, schaffen wir den Eindruck, in der Vergangenheit „zu sein„, versuchen wir, die Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes zu „re-präsentieren„. Gumbrecht weiß natürlich, dass dies gar nicht gehen kann, aber er versucht ein interessantes Experiment: Als „Versuch über historische Gleichzeitigkeit„ collagiert er eine Fülle diskursiver Quellen wie Romane, Gedichte, Feuilletons, Reiseberichte, Zeitdiagnosen, Autobiographien, Drehbücher, Essays, Reportagen, aber auch Werbe- und Todesanzeigen zu einer Art „Zeit-Bild„, in dem gemeinsame Strukturmuster („Dispositive„) und grundlegende „Codes„ (im Sinne von immer wiederkehrenden Bedeutungszusammenhängen) sichtbar werden (wobei bezeichnenderweise visuelle Quellen aufgrund ihrer Suggestion von „Unmittelbarkeit„ nicht einbezogen sind). Die (über dreißig) ausgewählten Dispositive lauten z.B. „Amerikaner in Paris„, „Bergsteigen„, „Fahrstuhl„, „Ausdauer„, „Grammophon„, „Streik„, „Bars„, „Fließband„, „Mumien„, „Revue„, „Uhren„ oder auch „Völkerbund„, die wie in einem Lexikon in Querbezügen immer wieder aufeinander verweisen.

Die Pointe dabei ist die Heterogenität der Quellenbezüge, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie (bis auf eine Ausnahme) aus dem weltpolitisch eher „unbedeutenden„ Jahr 1926 stammen, um den Blick nicht zu sehr auf gewohnte Perspektiven zu verengen. Diese Heterogenität soll irritieren und gewohnte Denkschemata aufbrechen, um die chaotische „Gleichzeitigkeit„ des zeitgenössischen Erlebens wieder nachvollziehbar zu machen. So stehen beispielsweise Passagen aus Franz Kafkas Roman „Das Schloss„ unmittelbar neben Betrachtungen aus Hitlers „Mein Kampf„, was auf den ersten Blick zwar nicht unbedingt „politisch korrekt„ erscheint, aber gerade deshalb den Blick auf bisher unvermutete intertextuelle Querbezüge lenkt, ohne diese in ein festes narratives Deutungsmuster pressen zu wollen. Den Anspruch auf „Vollständigkeit„ oder gar „letzte Erklärungen„ kann und will Gumbrecht also gar nicht erfüllen, aber es gelingt ihm durch dieses Verfahren, die „Paradoxien„ des „Zeitgeists„ freizulegen: So verweisen seine (primär europäischen bzw. (latein-)amerikanischen) Quellen immer wieder auf einen „Kult der Oberfläche„ (siehe z.B. die Dispositive Pomade, Revue, Reporter, Film), andererseits aber auch auf einen Hunger nach „Authentizität„ und „Echtheit„ in einer immer stärker „vermittelten„ Wirklichkeit (siehe z.B. Jazz, Polaritäten, Bergsteigen, Boxen, Stierkampf, Hungerkünstler u.a.). Ähnlich „paradox„ erscheint der Kontrast zwischen dem semantischen Grundmuster der „Beschleunigung„ auf der einen Seite und dem der „Ewigkeit„ bzw. „Dauer„ andererseits oder die sich gegenseitig paradox antreibenden Gegensätze zwischen vielfältigen Formen von „Normierung„ (z.B. im Dispositiv „Angestellte„) und dem beobachtbaren Kult um individuelle sportliche Höchstleistungen (etwa in Gestalt des Sechstagerennens) oder um existentielle Grenzerfahrungen (Bergsteigen bzw. Pol-Flüge u.ä.). Diese schon in den Dispositiven sichtbaren semantischen Gegensätze und paradoxen Verknüpfungen werden dann im zweiten Teil im Rahmen der Deutung binärer Codes fortgeführt: Gumbrecht vermag hier exemplarisch zu zeigen, wie die Diskurse immer wieder in binäre Oppositionsschemata wie Authentizität versus Künstlichkeit, Männlich versus Weiblich, Moderne versus Vergangenheit, Individualität versus Kollektivität, Immanenz versus Transzendenz usw. verfallen, aber auch, wie solche Deutungsmuster angesichts vielfältiger Krisenerfahrungen „zusammenbrechen„ und ihre ordnende Deutungsmacht verlieren.

Durch dieses gewissermaßen „ironisierende„ Verfahren gelingt es Gumbrecht über weite Strecken, die Auflösung traditioneller Sinngewissheiten als das durchgängige Grundgefühl der 20er Jahre plastisch zu veranschaulichen, was durch die überaus gelungene Übersetzung noch zusätzlich Farbe bekommt. Die Wahrnehmung der Welt als „Chaos„ ist nach den „totalen„ Gewalterfahrungen des Ersten Weltkriegs und der rapiden Technisierung der Alltagswelten gewissermaßen universell geworden, die Suche nach neuen Ordnungen, nach neuer (!) Sachlichkeit und Rationalität mit ihrer Hochschätzung von Formalismus und Funktionalismus wird angesichts des „kollektiven Traumas„ der Relativität von Werten und Ordnungen gewissermaßen zur „idée fixe„ der westlichen Intellektuellen. Es ist daher auch kein Zufall, dass die europäischen (und amerikanischen) Intellektuellen philosophische „Wahrheiten„ jenseits der totalen Relativierung der Werte vor allem außerhalb Europas zu suchen beginnen. Auf dieser neuen „mental map„ bleibt Europa das sozusagen selbstverständliche „Zentrum„ des Denkens, aber die Sehnsucht nach „Wahrheit„ und „Authentizität„ verschiebt sich immer mehr an die „Peripherie„: So erscheint Lateinamerika als Kontinent einer jungen Vitalität, die USA als Zukunftsland individueller Entfaltungsmöglichkeiten, die Sowjetunion als Modell kollektiver Gemeinschaft, Afrika als Ort archaischer Grunderfahrungen, Asien als ganzheitliche „Gegenkultur„ zum europäischen Rationalismus. Die intellektuelle Krise Europas in der Zwischenkriegszeit bündelt sich so in einem Relativismus der Perspektivität, der für viele zeitgenössische Beobachter unausweichlich in Dekadenz und kulturellen Untergang führt und auf den es im Kern nur zwei Antworten zu geben scheint: Entweder die Flucht in die Radikalisierung der Perspektivität, für die die Formen der modernen Kunst zur universellen Chiffre geworden sind – oder in einen neuen „Totalitarismus„, der der Relativität der Werte das Erlösungsversprechen einer vermeintlich in sich geschlossenen „Weltanschauung„ entgegenhält.

Völlig neu sind all diese Beobachtungen und Thesen naturgemäß nicht, aber man hat das selten so „paradox„ verdichtet zu lesen bekommen. Besonders überzeugend sind dabei die vielfältigen Querbezüge zwischen Alltagskultur und medial-diskursvier Repräsentation, die die Einseitigkeiten der „Alltagsgeschichte„ wie auch der Ideengeschichte kunstvoll hinter sich lassen, indem „Medienereignisse„ auf den verschiedensten Ebenen von der intellektuellen Spekulation bis zur handfesten Vermarktung entfaltet werden: So zeigt Gumbrecht beispielsweise, wie die spektakuläre Ausgrabung der Mumie Tutenchamuns nicht nur zu vielfältigen Spekulationen über vorchristliche Kulturen, sondern auch zu einer regelrechten Welle der Kleidermode mit Tutenchamun-Motiven führte. Und ähnliches galt für den Kult um Josephine Baker, der nicht nur die theatralischen Phantasien von Intellektuellen wie Max Reinhardt entzündete, sondern sich auch in hohen Verkaufszahlen von Pomade, Platten und Puppen niederschlug (ob auch der Verkauf von Bananen nach dem legendären Bananen-Tanz anstieg, bleibt allerdings ungeklärt).

Gumbrecht hat mit diesem Buch sicher nicht den „Stein der Weisen„ nach dem Ende der großen Theorien gefunden, zumal sein Verfahren außerhalb der Kulturgeschichte auf massive Grenzen stößt. Aber er hat ein innovatives Experiment vorgelegt, das zeigt, was eine moderne intellectual history leisten kann, die nach dem unbestreitbaren Verblassen der „großen Theorien„ nach neuen Wegen sucht. Das hat mit postmoderner Beliebigkeit nichts zu tun, denn Gumbrecht löst ein, was er selbst historisch beschreibt: Dass ein wesentliches Grundprinzip der Moderne im Bewusstmachen der radikalen Perspektivität und historischen Kontingenz von Erkenntnis und Wahrnehmung besteht – das sollte vielleicht insbesondere im Lande der „Geschichts-Lehrer„ zu denken geben.

Alexander Schmidt-Gernig





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