ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Band 58), R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 160 S., Ln., 68 DM.

Wie rezensiert man angemessen einen Band der Enzyklopädie Deutscher Geschichte? Die Vorgaben der Herausgeber sind rigide: Das zweigeteilte Gliederungsschema – „Enzyklopädischer (!) Überblick„ und „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung„ – ist vorgegeben. Die Geschichte soll, wie im Vorwort betont wird, „umfassend verstanden„ werden und zwar in der Trinität von Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, mit den Weiterungen in die „Geschichte der Religion und der Kirche, der Kultur, der Lebenswelten und der Mentalitäten„. Es handelt sich um das Programm, das sich mit der „Gesellschaftsgeschichte„ zur verblüffend erfolgreichen Orthodoxie herausgebildet hat. Die zeitliche und thematische Eingrenzung auch des vorliegenden Bandes ist durch die Vorgaben pragmatisch und kommt zweifellos den Erwartungen aller Prüfungskandidaten entgegen: Zwar wird betont, dass „der Erste Weltkrieg für die politische Kultur von Weimar eine entscheidende Rolle spielte„ (S. 84), und außerdem wird z. B. auf die langfristigen Defizite des Parlamentarismus hingewiesen, aber die Darstellung ist notwendigerweise fast hermetisch auf die Jahre 1918 bis 1933 beschränkt. Das ist sicherlich nicht dem Autor vorzuwerfen. Aber es ist nicht zu übersehen, dass damit im historischen Diskurs, in seltener Einigkeit mit verlegerischem Kalkül, eine inzwischen gut etablierte Essentialisierung der „Weimarer Republik„ weiter fortgeschrieben wird, deren wissenschaftliche Relevanz inzwischen recht fraglich ist.

Der plausibelste Grund für diese Art der Periodisierung ist der klassische Topos der Zeitgeschichte: „Das dauerhafte historisch-politische Interesse an der Weimarer Republik erklärt sich durch ihr Scheitern„, schreibt der Verfasser. „Über die konkrete Verlaufsgeschichte hinaus bietet daher die Weimarer Republik ein Paradigma für die Gefährdung und Selbstgefährdung der Demokratie, für ihre Zerstörung und Selbstzerstörung: Bis heute bleibt sie ein Menetekel für die Fragilität der Freiheit„ (S. 48). Damit sind nun in klassischer Manier die wichtigsten Themenfelder umrissen: Entstehung und Verfassung der Weimarer Republik; Parlament und Parteien; Wirtschaftliche Entwicklung, gesellschaftliche Konfliktherde und staatliche Intervention; Politische Kultur und „sozialmoralische Milieus„; die Republik und ihre Feinde; das Ende der Weimarer Republik. Der „Enzyklopädische Überblick„, in dem auch diese Fragen schon angeschnitten werden, ist ein Tribut an die Standardisierungsbemühungen der Herausgeber, im Prinzip überflüssig, und man wünschte sich, die 46 Seiten wären dem zweiten Teil zugeschlagen worden. Abwägend und verhalten kritisch und nüchtern resümiert der Verfasser die umfangreiche Literatur und zeichnet die aktuellen Debatten nach. Dabei konzentriert er sich auf „gesellschaftsgeschichtlich orientierte Forschungstrends„ (S. IX), was der Darstellung trotz einer Vielzahl von Überschneidungen mit dem bekannten Band von Eberhard Kolb einige andere Akzente gibt. Das gilt namentlich für die Abschnitte über den Sozial- und Interventionsstaat und die politische Kultur und jenen über „sozialmoralische Milieus„. Dringend erwünscht seien „sozialgeschichtliche Synthesen„, deren Zeit, wie der Verfasser betont, noch kommen werde (S. 51). Aber vielleicht brauchen wir zunächst gar keine neuen Synthesen, sondern erst einmal neue Thesen und vor allem einen Blick über die vordergründigen politischen Zäsuren und Grenzen hinweg. Aber solche Fragen werden von den Büchern dieser Reihe nicht erwartet.

Martin H. Geyer, München





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | September 2001