ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Eduard Winkler, Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest 1905-1909. Eine Analyse der politischen Partizipation in einer multinationalen Stadtregion der Habsburgermonarchie (= Südosteuropäische Arbeiten, Band 105), R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 405 S., geb., 98 DM.

Die Arbeit verfolgt das Ziel, Wahlrechtsreformen und Wahlen in Triest im Spannungsfeld der konkreten nationalen und sozialen Gegebenheiten der expandierenden Hafen- und Handelsstadt Triest und der um ihre Selbsterhaltung und Erneuerung kämpfenden Donaumonarchie darzustellen, da nur die gleichzeitige Berücksichtigung beider Komponenten geeignet erscheint, die historische Realität des Ineinandergreifens von lokalen Gegebenheiten und übergreifenden Einflüssen in einer Situationsanalyse zutreffend zu verbinden. Ausdrücklich betont der Autor in der Einleitung sein Bestreben, über eine möglichst genaue Erfassung zahlenmäßiger Verhältnisse hinaus die Daten einzubetten in eine Darstellung der tatsächlichen Lebensverhältnisse der Stadt und ihrer verschiedenen nationalen und sozialen Gruppierungen. Dabei sollen nicht nur Zustände des gegebenen Augenblicks erfasst werden, sondern auch die in ihnen liegende Dynamik und die aus ihr resultierenden Frontstellungen und Kooperations- und Koalitionsmöglichkeiten zwischen den Gruppen.

Ein kurzer Gang durch die Stadt bietet einleitend einen Blick auf die verschiedenen Wohn- und Arbeitsregionen und auf Brennpunkte des öffentlichen Lebens, der politischen Repräsentation und der handgreiflichen Austragung von Konflikten. Die Bevölkerungsentwicklung wird in Beziehung gesetzt zur Landschaft und zu wirtschaftlichen Entwicklungsfaktoren. In einer Skizzierung des Verhältnisses von lokaler Autonomie zu Steuerungsimpulsen von Seiten der Wiener Zentrale werden die antagonistischen Komponenten eingeführt, die im Mittelpunkt des analytischen Interesses stehen. Wirtschaftliche Daten unterbauen die Bedeutung der Stadt sowohl für ihr eigenes Umfeld als auch im Zusammenhang des Habsburgischen Staates. Mit der Zusammensetzung der Bevölkerung aus Italienern, Slowenen, Deutschen und weiteren nationalen Splittergruppen wird das grundlegende Konfliktpotential der Stadt angesprochen. Ihm trug die amtliche Dreisprachigkeit von Deutsch, Italienisch und Slowenisch Rechnung, während umgangssprachlich das triestinische Italienisch und daneben ein slowenisch-litoraler Dialekt die alltägliche Gemeinsamkeit der Lebens- und Arbeitswelt zum Ausdruck brachte. Bei einem fast absoluten Vorherrschen des römischen Katholizismus stellten nur Juden eine 2% überschreitende Splittergruppe dar. Einen weiteren grundlegenden Differenzierungsfaktor bedeuteten dagegen die wirtschaftlichen Verhältnisse, und zwar weniger nach Wirtschaftssektoren, unter denen Handel und Verkehr weit führend und beherrschend vor Land- und Forstwirtschaft standen, als nach Vermögens- und Einkommens Staffelung. Die politischen Gruppierungen standen einmal unter der Prägung durch ihre nationale Zuordnung, dann aber auch und nicht selten konkurrierend unter Einflüssen wirtschaftlich-sozialer Art. Weitaus größte Gefolgschaft und Einfluss hatte die italienisch liberal-nationale Assocazione Patria, bei der zumindest unterschwellig immer eine italienisch-irredentistische Tendenz vorhanden war. Daneben stand ein wesentlich schwächerer republikanisch-demokratisch ausgerichteter Partito della Democrazia Sociale Italiana. Katholisch-übernational, aber auch vorwiegend aus Italienern gebildet war der wenig einflussreiche Partito Cristiano-Sociale. Die Slowenen, die vor allem sehr zahlreich die Vororte und das Umfeld Triests bewohnten, bildeten ebenfalls eine beachtliche politische Partei, während der liberalnationale Deutsche politische Verein nur eine weitaus geringere Wählerschaft, und zwar die der deutschsprachigen Triestiner besaß. Weiter gab es dann noch zwei sozialistische bzw. sozialdemokratische Parteiorganisationen und eine kleine anarchistische Gruppe, der die besondere Aufmerksamkeit der Polizei galt. Uneingeschränkte Loyalität zur Habsburgermonarchie war wohl nur bei dem Deutschen politischen Verein zu vermerken, wenn auch in anderen Parteien die einen oder anderen Interessengruppen gelegentlich ihre Förderung von der Wiener Zentrale und von den inneren Machtkonstellationen des Gesamtstaates erhofften.

Das Verhältnis der verschieden Bevölkerungsgruppen und Parteien bekam in den Jahren 1905 bis 1909 eine besondere Zuspitzung dadurch, dass – zusätzlich angestachelt durch die revolutionäre Entwicklung in Russland und ihre Beilegung durch weitgreifende politische Zugeständnisse des Zaren – die Frage der Ausweitung der politischen Partizipation durch eine erweiternde Modernisierung des Stimmrechts höchste Aktualität gewann. Die teilweise dramatischen Auseinandersetzungen erreichten auf Reichsebene die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für die Reichsratswahlen. Auf Grund dieses neuen allgemeinen Wahlrechts errangen die italienischen Sozialisten vier und die slowenische Narodnjaki ein Mandat im Wiener Reichsrat. Triest kam dadurch in der Wiener Zentrale in den Ruf einer roten Stadt. Auf der Ebene der Gemeinderatswahlen wurde die Erweiterung des Wahlrechts wesentlich zurückhaltender gehandhabt. Trotz heftiger Auseinandersetzungen mit den politischen und ethnischen Gruppierungen, die sich von der Erweiterung der Partizipation erhöhten Einfluss versprachen, blieb es bei einem modifizierten Zensuswahlrecht. In Triest führte dies dazu, dass die italienischen Liberalnationalen alle Mandate in den städtischen Zensus-Wahlkörpern errangen, während die slowenische Narodnjaki sämtliche Mandate in dem Zensus-Wahlkörper der Umgebung errang. Wenn die Zentralregierung sich von den neuen Regelungen für die Gemeinderatswahlen eine Schwächung der italienischen liberalnationalen Partei erhofft hatte, so wurde sie in dieser Erwartung enttäuscht.

Die Analysen der Wahlergebnisse können hier nicht in ihren vielfältig differenzierten nationalen Dimensionen und in ihren vielen lokalen Besonderheiten verfolgt werden, die ein höchst lebendiges Bild der zahlreichen Spannungen innerhalb der Stadtbevölkerung und mit den zentralstaatlichen Institutionen und Einflussnahmen ergeben. Lebhaftes Kolorit erhalten diese Spannungen zusätzlich durch Schilderungen von Wahlkampfepisoden, durch Charakterisierungen der parteipolitischen Wahlkampfstrategien im Hinblick auf die verschieden nationalen Gruppen und sozialen Schichten und schließlich durch die Darstellung der politischen Siegesfeiern und Wirkung von Niederlagen. So weitet sich die Analyse der Wahlreformen und ihrer praktischen Umsetzungen in Triest zum Panorama eines nuancierten Spektrums nationaler, sozioökonomischer und politischer Haltungen und Verhaltensweisen, die der Autor mit Recht als ein Beispiel für die Behandlung einzelner Regionen an der Peripherie des Habsburgerreiches ansieht, das einmal den speziellen Charakter solcher Regionen herausarbeitet, das aber zum anderen auch einen informativen Beitrag zur Zustandsanalyse des österreichischen Vielvölkerstaates unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg leistet, der infolge der militärischen Niederlage der Mittelmächte mit seinem endgültigen Auseinanderbrechen enden sollte. Noch bis in die Gegenwart hineinreichende Auswirkungen der damaligen Spannungen und Konflikte im Bereich der Habsburgermonarchie zeigen, dass diese Probleme auch nicht durch den Zusammenbruch des Vielvölkerstaates abschließend gelöst wurden.

Karl-Egon Lönne, Düsseldorf





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