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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christian Noack, Muslimischer Nationalismus im Russischen Reich. Nationsbildung und Nationalbewegung bei Tataren und Baschkiren, 1861-1917 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Band 56), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2000, 614 Seiten, geb., 156 DM.

Fragen nach der Loyalität der Tataren zu Moskau, ihrem Verbleib in der Russischen Föderation und auch der Wahrscheinlichkeit eines Zusammenschlusses der Muslime von Kazan über Kasachstan bis nach Taschkent und Duschanbe waren in der ersten Hälfte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hochaktuelle, stark emotionalisierte Themen in der russischen politischen Diskussion.

Christian Noacks Kölner Dissertation bietet quasi die historische wissenschaftliche Grundlage zu diesen Debatten. Sie tut dies in dem breitem Rahmen, den die Überschrift verspricht, geht sogar noch darüber hinaus. Das umfangreiche Werk ist chronologisch in drei etwa gleich lange Abschnitte gegliedert, die der üblichen Einteilung der russischen Geschichte entsprechen: Teil 1 stellt die Phase vor 1905 dar, Teil 2 die Wolgamuslime in den Jahren der Revolution von 1905-07, Teil 3 dann die Zeit der Reaktion und des 1. Weltkrieges bis zu den Autonomien des Revolutionsjahres 1917. Untersuchungsschwerpunkte dabei sind 1. der politische und gesellschaftliche Wandel im behandelten Zeitraum; 2. der nationale Diskurs, der zur Entstehung der Ideologie führte; 3. die Realisierung des nationalen Programms, 4. die Identifizierung der Trägerschichten/Akteure des nationalen Diskurses und 5. die Institutionen nationaler Aktivitäten. Es handelt sich also nicht um eine geistesgeschichtliche Analyse der Entwicklung national(istisch)er Ideologie an der Wolga, sondern die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse werden in ihrer Wechselbeziehung und ihrer Wirkung auf die Identitäts- und Nationsbildung der Wolga-Muslime dargestellt.

Noack verfolgt, wie und unter welchen Umständen sich eine regionale muslimische Identität, die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte, durch russischen Einfluß nach 1860 zu einer nationalen Identität weiterentwickelt. Denn die ethnische Zuordnung von Tataren und Baschkiren ist keineswegs so einfach, wie es uns heute rückblickend und der Darstellung sowjetischer Autoren folgend, erscheint: „Tatarisch vermittelte im zeitgenössischen Sprachgebrauch [...] keine eindeutige Zuschreibung ethnischer Identität„ (S.13). Die Bezeichnung Tatare und Muslime wurde nahezu synonym gebraucht, also „... ist die Geschichte der Identitäts- und Nationsbildung der Muslime zwischen Wolga und Uralfluss im 19. und frühen 20. Jahrhundert durch ein verwirrendes Nebeneinander ethnischer, konfessioneller, regionaler und supraregionaler Elemente gekennzeichnet ...„ (S. 12). Dieses Durcheinander ordnet und erklärt der Autor so gut es eben geht.

Am Anfang der Darstellung steht eine grundlegende Einführung in die ethnischen, sozialen, ökonomischen und historischen Verhältnisse an der mittleren Wolga bis Mitte des 19. Jh. einschließlich einer Darstellung der zarischen Islampolitik, die jedem, der einen kompetenten, knappen Überblick zu diesem Thema sucht, zum Lesen empfohlen sei. Der Autor zeigt, dass es Mitte des 19. Jh. zwar regionale, ethnische und soziale Differenzen innerhalb der Gruppe der Wolgamuslime gab, aber zugleich gemeinschaftsbildende Elemente in bezug auf Bezeichnung, Vergangenheitsmythos, Kulturmerkmale und Territorium zu erkennen sind, die die Grundlage für die Entwicklung eines Nationalbewusstseins in den folgenden Jahrzehnten waren.

Die Ära der sog. Großen Reformen und die unmittelbar anschließende Reaktion brachte auch für die Muslime der Wolga einen tiefgreifenden Wandel in Ökonomie, Gesellschaftsstruktur und Bildungswesen. Die Verarmung der Landbevölkerung und die Angst vor Russifizierung und Zwangstaufen mündete in bäuerliche Unruhen, unterstützt von geistlichen Gelehrten und städtischen Eliten 1878/79. Zeitgleich führte der in eben diesen städtischen Eliten entstandene Djadidismus zur Revision alter Positionen. Diese muslimische Reformbewegung forderte u.a. eine Fusion von Islam und Moderne, sowie ein neues Verhältnis zu Russland. Sie ging von einer Gemeinschaft der Muslime Russlands aus, deren konfessionelle, ethnokulturelle und historische Merkmale je nach Bedarf verschieden gewichtet wurden. Der Djadidismus war zwar im Wolgaraum besonders erfolgreich, konnte sich aber nicht gegen die traditionell orientierte Mehrheit durchsetzen. Die Erfolge der Modernisierer sind laut Noack in der Forschung bisher übertrieben worden.

Die Revolutionsjahre 1905-07 brachten zwar Unruhe auch an die Wolga, weder die Städte noch die Gutshöfe der Region standen aber im Brennpunkt des Geschehens. Doch die Muslime nutzten die neuen politischen Freiheiten nach dem Oktobermanifest. Sie zeigten gemeinsame Stärke, begannen sich politisch zu organisieren und in der Duma aktiv mitzuarbeiten. Trotz ihrer gemäßigten Haltung dort zählte die Regierung die muslimischen Abgeordneten zu ihren Gegnern. Gleichzeitig entstand eine muslimische Öffentlichkeit. „Insgesamt war aber die programmatische Entwicklung des muslimischen Nationalismus von einem Grundkonsensus über die djadidistisch-muslimischen Essentials in Kultus- und Bildungspolitik einerseits und einem Dissens über die allgemeine politische Orientierung, besonders aber der Haltung in der sozialen Frage andererseits gekennzeichnet.„ (S.320) Der muslimische Nationalismus konnte sich 1905-07 als dominanter politischer Diskurs festsetzen, doch zugleich entstanden immer stärkere Meinungsverschiedenheiten über den zukünftigen Kurs der muslimischen Bewegung.

Nach 1907 versank die muslimische Nationalbewegung in Apathie, der Traditionalismus erstarkte wieder. So konnte man der zarischen Regierung, die die muslimischen Nationalisten kriminalisierte und stigmatisierte und die Zahl der muslimischen Abgeordneten in der Duma reduzierte, nichts entgegensetzen. Die muslimische Einheit wurde zur Fiktion, wie Denunziationen aufgrund innermuslimischer Spannungen zeigen. Das Jahr 1912 markiert den Tiefpunkt der Krise des muslimischen Nationalismus, zugleich steckte auch die staatliche Islam- und Minderheitenpolitik in einer Sackgasse.

Der Ausweg für die Muslime lag in der Erneuerung. Religiöse Elemente verloren an Bedeutung, „Eine völkische Abstammungsgemeinschaft, ein gemeinsames kulturelles Erbe und die Geschichte vergangener Großreiche wurden dagegen stärker herausgestellt.„ (S.469). Die Muslime der Wolga-Ural-Region begannen sich als „tatarische Nation„ zu bezeichnen, der Kazaner Regiolekt wurde gemeinsame Schriftsprache. Ein politisches Wiedererwachen, eine „triumphale Wiedergeburt„ (S. 554) fand aber erst im Jahr 1917 statt. Hier geht Noack auch kurz auf die Entstehung der im Titel angekündigten baschkirischen Nationalbewegung ein. Mit einem knappen Ausblick auf den Weg zum Idel-Ural-Staat endet die Darstellung.

Noack begegnet seinem Untersuchungsgegenstand nicht ohne Sympathie, aber nicht parteiisch, vor allem mit einem ungeheuren Wissen. Besonders gut ist es ihm gelungen, die Zustände und Entwicklungen in seiner speziellen Region in die gesamtrussische Geschichte einzubetten, von der immer gerade so viel, wie zum Verständnis nötig, aber eben nicht mehr, eingebracht wird. Bei der Darstellung seiner Region neigt Noack dagegen an manchen Stellen zu viel Detailverliebtheit, die den Leser zu überfordern droht. Insgesamt handelt es sich um ein Grundlagenwerk, an dem niemand, der sich für die Zustände an der mittleren Wolga interessiert, mehr herumkommen wird. Leider ist die Arbeit aber wenig leserfreundlich. Dies betrifft zum einen die Länge. Bei einer konsequenten, auch stilistischen Überarbeitung, hätte sich manche Seite einsparen lassen (nicht zu reden von der Eliminierung zahlreicher Tippfehler), vor allem aber fehlt dem Werk ein Register, das die unendlichen Massen von Namen und Orten aufschlüsseln würde.

Beate Eschment, Berlin





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