ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867-1881), 5. Bd.: Gewerbliche Unterstützungskassen. Die Krankenversicherung für gewerbliche Arbeitnehmer zwischen Selbsthilfe und Staatshilfe. Bearbeitet von Florian Tennstedt und Heidi Winter unter Mitarbeit von Elmar Roeder und Christian Schmitz, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, LIV + 798 S., geb., 258 DM.

Mit dem vorliegenden fünften Band und dem für dieses Jahr erwarteten Erscheinen auch des sechsten Bandes, betreffend die Altersversorgungs- und Invalidenkassen, liegt die I. Abteilung der Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik nunmehr fast vollständig vor. Sie ist nicht nur ein editorisches Großprojekt, dessen stetiges und zügiges Wachstum nach den bekannten schwierigen Anfängen Bewunderung abverlangt; sie ist auch das Ergebnis der Forschung, die seit 1966 geleistet und maßgeblich von Florian Tennstedt vorangetrieben wurde. Auf dieser Grundlage kann das Bearbeiterteam zugleich mit den Quellen, ergänzt um die im Anhang veröffentlichen Statistiken, Gesetzen, Verordnungen und Statuten, in der vorzüglichen Einleitung den Forschungsstand präsentieren, so dass der Benutzer einen umfassenden Überblick über die große Debatte erhält, die zur Versicherungsgesetzgebung der 1880er Jahre führte. Der vorgegebene Zeitrahmen 1867 bis 1881 wurde bewusst locker aufgefasst, um auch die Anfänge, insbesondere die preußische Kassengesetzgebung ab 1845, mitzuerfassen. Anders als bei der III und IV. Abteilung, die nach Jahresbänden gegliedert ist, kann der Leser hier die Vorteile der thematischen Gliederung voll ausschöpfen und zudem über Querverweise zu anderen Bänden der I. Abteilung größere Zusammenhänge herstellen. Mit seinem exzellenten Register, nach Regionen, Orten, Personen, Firmen und Sachgebieten geordnet, ist dieser Band ein phantastisches Arbeitmittel für jeden, der an deutscher Sozialpolitik interessiert ist.

Er ist aber mehr als das. Hinter dem trockenen Titel „gewerbliche Unterstützungskassen„ verbirgt sich eine der spannendsten politischen Auseinandersetzungen der 60er und 70er Jahre, die für die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Gewerkschaften und Parteien, aber auch des gesamten Verhältnisses zwischen Staat, liberalem Bürgertum und Arbeiterbewegung im deutschen Reich wichtig wurde. Die Begriffe Selbsthilfe und Staatshilfe, die die Herausgeber als roten Faden und Interpretationshilfe anbieten, verweisen auf diese politische Dimension. Der Konflikt zwischen dem altpreußischen Kassenmodell der Zwangskasse mit Kassenzwang für Arbeitnehmer und Beitragszwang auch für Arbeitgeber, und dem sich ab 1863 herausbildenden Kassenmodell der Arbeiterbewegung war weit mehr als nur ein Streit um die richtige Organisation einer Krankenkasse. Freie Kassenwahl, Ablehnung von Beitrittszwang und Arbeitgeberbeiträgen entsprachen der Forderung nach Rechtsgleichheit, Selbstbestimmung und Emanzipation der Arbeiter. Entwickelt zunächst von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen, wurde dieses Modell dann auch von den Freien Gewerkschaften übernommen. Die Erfolge der liberalen Sozialreformer bei der Verhandlung der Gewerbeordnung von 1869 und des Hilfskassengesetzes von 1876 kamen deshalb auch den sozialdemokratischen Gewerkschaften zugute.

So zieht sich durch alle Quellen – Berichte der Bezirksregierungen, private und dienstliche Korrespondenz von Ministern, Beamten und Reichstagsabgeordneten, Petitionen und Pamphlete der Gewerkschaften - die Auseinandersetzung um die erhoffte oder befürchtete gesellschaftspolitische Wirkung der Kassen. Die staatlich organisierten Zwangskassen wurden als starkes Band zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gepriesen, das die gesellschaftliche und staatliche Ordnung festigen würde; die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinskassen dagegen als Gefahr allein schon deshalb angesehen, weil sie starke, unabhängige Organisationen bildeten, die auch als Streikkassen dienen könnten. Seit Anfang der 70er Jahre wurden die Hilfskassen als Bollwerk gegen den Sozialismus diskutiert oder, in dem Maße, wie Sozialdemokraten führende Positionen in der Selbstverwaltung der Kassen eroberten, als sein Instrument. Folgerichtig wird denn auch die Vorgeschichte des Sozialistengesetzes und die Bedeutung der Kassen für das Überleben der Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz dokumentiert.

Von Krankheit, Gesundheit und Armut ist deshalb in diesen Quellen weit weniger die Rede als von Freiheit und Selbstbestimmung, von staatlicher Kontrolle und Zwang. So galt z.B. die Aufnahme von Normativbestimmungen in die Kassengesetzgebung zwar auch als Mittel, bestimmte Leistungsstandards der Kassen durchzusetzen, wichtiger aber war die Kampagne gegen das System der Konzessionierung der Kassen und staatlichen Aufsicht, das Verwaltungswillkür erlaubte und von Liberalen und Sozialdemokraten als Verstoß gegen die Gleichheit vor dem Gesetz betrachtet wurde. Die konkrete soziale Funktion der Kassen, statistisch oft nur unzureichend belegt, beeinflusste die politischen Entscheidungen weniger als die Perzeption der Kassen und ihre Darstellung nach außen.

Diese politische Auseinandersetzung fand weitgehend in Preußen und auf der Ebene der Institutionen des Reiches statt; Quellen aus Süddeutschland, wo das System der Gemeindekrankenkassen im Rahmen der Armenpflege dominierte, wurden deshalb nur wenige abgedruckt. Im übrigen aber besticht der Band durch seine große Quellenvielfalt, die weit mehr als nur den Gesetzgebungsprozess erschließt. Alle Ebenen der Verwaltung bis zu den Kommunen, die Anwendung der Gesetzgebung durch Gerichte und Polizei, die Debatte in Arbeitgeberkreisen, auf dem Kongress der Volkswirte und in der Presse kommen ausführlich zu Wort. Obwohl die Bearbeiter selbst angeben, das Innenleben der Kassen vernachlässigen zu müssen, geben z.B. die Quellen Nr.84ff. einen lebhaften Eindruck von den Kämpfen um die Verwaltung der Berliner Maschinenbauerkasse.

Zu Recht wird also dieser Band vom Verlag als Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung hervorgehoben. Die Entwicklung der Krankenversicherung aus den gewerblichen Unterstützungskassen für die „gegenseitige Unterstützung aller Gewerksgenossen bei Krankheit, Todesfall..., Wanderschaft, Arbeitsunfähigkeit infolge Unfall oder Altersschwäche, sowie insbesondere bei Arbeitslosigkeit durch Geschäftsstockung, Aussperrung und Arbeitseinstellung„ (S.75, Anm.1) war eben kein notwendiger Schritt im Sinne eines funktionalistischen Postulates auf dem Weg zu modernen Systemen sozialer Sicherung. Die Kassentrennung, die Herausbildung des Risikogedankens und der Wandel von der Krankenkasse zur Krankenversicherung war Teil eines umstrittenen Prozesses, den viele Akteure beeinflussten, und dessen Auswirkungen das politische Kalkül der Beteiligten weit überstiegen.

Sabine Rudischhauser, Wien





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