ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Kochanek, Hildegard, Die russisch-nationale Rechte von 1968 bis zum Ende der Sowjetunion. Eine Diskursanalyse. (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, Bd. 54, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1999, 314 S., kt., 124 DM.

Zahlreiche Forschungsbeiträge zum Denken der „neuen russischen Rechten", so Hildegard Kochanek, beschränkten sich auf die Deskription unterschiedlicher „Gesichter des russischen Nationalismus", häufig genug unter Übernahme der Selbststilisierung der beschriebenen Gruppen. So würden dissidente und offiziöse, russisch-nationale und imperiale, staatliche Traditionen betonende Tendenzen, russophile und slawophile Ansätze und dergleichen mehr einander gegenüber gestellt, die rechte Szene erscheine als extrem sektiererisch und zersplittert. Dem setzt die Autorin den ambitionierten Versuch entgegen, den russischen Nationalismus als „ein Spektrum unterschiedlicher, oft divergierender und miteinander konkurrierender ideologischer Strömungen" diskursanalytisch zu untersuchen. Zugleich wendet sie sich gegen die Vorstellungen von einem „ideologischen Vakuum", das nach Zusammenbruch der Sowjetunion und Delegitimierung des Kommunismus unter Rückgriff auf vorrevolutionäre oder importierte Ideologeme hätte gefüllt werden müssen.

Ausgangspunkte der vier Hauptkapitel bilden Rekonstruktionen jeweils einer schon in der legalen Publizistik, dem Samizdat und im Exil der sechziger und siebziger Jahre gleichermaßen geführten Debatte um literarische, philosophische und historische nationale Traditionsbestände. Im ersten Kapitel ist dies die Diskussion um die „Dorfprosa", im zweiten steht die „Wiederentdeckung des Slawophilentums" im Mittelpunkt, das dritte widmet sich der Suche nach einer besonderen russische Wirtschaftsethik, das vierte und umfangreichste diskutiert den „Neo-Eurasismus" der russischen Rechten. Bereits die Rekonstruktion dieser Debatten verdeutlicht zum einen, wie verblüffend offen nationales, von der offiziellen Ideologie zum Teil extrem abweichendes Gedankengut in der Ära Brežnev diskutiert und rezipiert werden konnte. Zum anderen zeichnen sich bevorzugte Mechanismen der Argumentation ab, mit deren Hilfe ein begrenzter Fundus antimodernistischer, antiwestlicher und antidemokratischer Stereotypen legitimiert wird: verkürzende, vulgarisierende oder verfälschende Wiedergabe von Gedankensplittern anerkannter russischer Geistesgrößen, bevorzugt Dostoevskijs, Vladimir Solov'evs oder Sergej Bulgakovs.

Dies belegen die ideengeschichtlichen Ableitungen, die Kochanek auf die Diskursanalyse jeweils folgen lässt. Dabei wird überzeugend vermittelt, dass zentrale Aspekte dieser fast durchgehend als „eigener Weg" reklamierten Traditionen bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert jeweils in unmittelbarer geistiger Auseinandersetzung mit westlichem Denken entwickelt wurden, Ende das 20. Jahrhunderts aber fast durchweg zur Stützung der These von einer eigenständigen geistesgeschichtlichen Entwicklung Russlands in Abgrenzung zum Westen instrumentalisiert werden.

Im Anschluss an die historischen Degressionen verfolgt Kochanek die Weiterentwicklung der Debatten während der Perestrojka und im postsowjetischen Russland. Dabei tritt zunächst, neben den inhaltlichen Konstanten, auch die institutionelle und personelle Kontinuität deutlich zutage. Der Leser begegnet in unterschiedlichen Kontexten immer wieder denselben Protagonisten national-patriotischen Denkens innerhalb und außerhalb des Establishments, die sich dann zu den Wortführern der postsowjetischen „neuen Rechten" aufschwangen.

In gewisser Weise verklammern die beiden abschließenden Kapitel zur (zeitweiligen) „Spaltung des patriotischen Lagers" über die Frage ethnisch-russischer oder etatistisch-russländischer Zielrichtung des russischen Nationalismus sowie zur Idee der „Allmenschheit" als besonderer historischer Mission des russischen Volkes die zuvor geleistete tour d’horizon. Man hätte sich zusätzlich, über die von der Autorin selbstgewählte Beschränkung auf einen konventionellen Diskursbegriff und einen ideengeschichtlichen Ansatz hinaus, eine zusammenfassende und systematisierende Analyse zentraler und immer wiederkehrender Motive der vier untersuchten Debatten vorstellen können, um die mentalen Prädispositionen und kollektiven Deutungssysteme klarer hervorzuheben. Eindrücklicher als in den übrigen Kapiteln gelingt Kochanek dies in den Abschnitten zu Lev Gumil'evs Thesen und zum Eurasismus. Hier treten die diskursiven Strategien der Rechten besonders deutlich zutage, hier werden zum Teil überraschende historische und zeitgenössische Querverbindungen zwischen (neo-) imperialem und (neo-) rassistischem Denken in Russland und Europa transparent. Darüber hinaus kann Kochanek die erschreckende Empfänglichkeit weiter Intelligenzijakreise für pseudowissenschaftliche Welterklärungsmuster und Verschwörungstheorien mit den spezifischen sowjetischen Wissenschaftstraditionen und dem traditionell elitären Selbstverständnis der russischen Bildungsschichten überzeugend motivieren.

Gerade in diesen Passagen liefert Kochaneks bereits 1996 abgeschlossene, aber erst 1999 veröffentlichte Untersuchung auch einen Schlüssel für das Verständnis jenes patriotischen Schulterschlusses, der sich, ungeachtet aller vordergründigen Rhetorik, bereits unter Jelzin zwischen politischem Establishment und national-kommunistischer „Opposition" vollzog. In der Ära Putin tritt zunehmend deutlich zutage, dass vulgarisierte Varianten der „russischen Idee", die auf ähnlichen Stereotypen aufbauen und auf vergleichbare Weise Anleihen in der Ideengeschichte suchen, keineswegs auf die extreme Rechte beschränkt bleiben. Kochaneks Verortung der Renaissance verschiedener Spielarten der „russischen Idee" im geistigen Klima der späten Sowjetunion überzeugt: Den Nährboden bildeten ein von gesellschaftlicher Verantwortung weitgehend befreiter publizistisch-literarischer Diskurs, eine Wissenschaftslandschaft, die selbsternannte Geschichtsphilosophen jeder Notwendigkeit ernster Auseinandersetzung mit anderen Wissensgebieten enthob, schließlich Denkgewohnheiten, die sich stets dem Primat der Ideologie unterwarfen.

Christian Noack, Bielefeld





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | August 2001