ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Daniel H. Kaiser (Ed.), The Workers’ Revolution in Russia, 1917. The View from Below, Cambridge University Press, Cambridge 1997, 157 S., Pb., 14.95 £.

Die vorliegende Aufsatzsammlung renommierter amerikanischer Sozialhistoriker setzt sich zum Ziel, die Geschichte der russischen Revolution auf der Grundlage neuer Quellen zu revidieren. Um es gleich vorwegzunehmen, die Autoren werden dieser Aufgabe nicht gerecht. Es handelt sich um ein Reprint der bereits 1987, also noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, entstandenen Ausgabe, ohne das zwischenzeitlich zugängliche Archivmaterial zur Interpretation der Revolutionsereignisse des Jahres 1917 herangezogen zu haben. Der Charakter der Oktoberrevolution wie auch die soziale Ordnung, die sie hervorbrachte, ist in der Sozialgeschichtsschreibung heftig umstritten. Fest steht, dass jahrzehntelang die Bedeutung politischer Akteure wie Lenin und Trockij überschätzt wurde. Revolutionsgeschichte schenkte vor allem revolutionären Persönlichkeiten Beachtung; das Denken und Handeln des „einfachen Arbeiters„ blieb dagegen ausgeklammert. Diese einseitige Gewichtung findet man auch in anderen grundlegenden Werken wie z.B. die „Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates„ von Manfred Hildermeier (C.H. Beck, München 1998).

Wie Ronald G. Suny in seiner Einleitung hinweist, machte sich im ausgehenden Zarenreich eine zunehmende Polarisierung in der städtischen Gesellschaft zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterklasse bemerkbar. Modernisierung und Liberalisierung im Zuge der Industrialisierung waren weitgehend an den Arbeitern vorbeigegangen. Gennady Shkliarevsky hat einmal die russische Fabrik im Zarenreich als Autokratie im Kleinformat beschrieben. Die Dynamik der russischen Revolution als soziale Bewegung lässt sich daher nur mit der Forderung der Arbeiter nach umfassender demokratischer Mitbestimmung erklären. Es waren gerade die Fabrikkomitees, die im Gegensatz zu den Gewerkschaften, im Revolutionsjahr 1917 eben keine Koalitionsregierung sozialistischer Parteien, sondern eine Einparteiendiktatur der Bol’ševiki forderten. Fabrikkomitees entstanden spontan noch vor der Bildung von Sowjets. Die meisten Mitglieder dieser Komitees waren parteipolitisch nicht gebunden, was die Eigendynamik während der Revolution erklärt. Aus Memoiren geht hervor, dass sich die Fabrikkomitees als die Träger der Revolution ansahen; die Bol’ševiki erhielten lediglich ein Plebiszit. Das entscheidende Zusammenspiel zwischen den Fabrikkomitees und den Bol’ševiki wird in der Aufsatzsammlung überhaupt nicht beleuchtet; ein Blick von »unten« , d.h. aus der Sicht der Arbeiter, fehlt daher völlig. Hier ist eher die Studie von Gennady Shkliarevsky „Labor in the Russian Revolution. Factory Committees and Trade Unions, 1917-1918" (St. Martin’ Press, New York 1993) zu empfehlen.

Eine fundamentale Schwäche des Sammelbandes besteht darin, dass dem Leser hier eine traditionelle Revolutionsgeschichte aus der Perspektive St. Petersburgs und Moskaus vorgelegt wird. Arbeiteraufstände hat es auch in Warschau, Wilna, Kiev, Odessa, Tiflis und Baku gegeben. Die Oktoberrevolution bot gerade an Russlands multiethnischer Peripherie die Arena zivilisatorischer Zusammenstöße. Hier gerade besaß das Zusammenwirken von nationaler und sozialer Frage eine besondere Sprengkraft, was den Autoren in „Workers’ Revolution in Russia, 1917„ entgeht. Eine Revolutionsgeschichte, die der multiethnischen Arbeiterschaft des Zarenreiches gerecht wird, muss erst noch geschrieben werden.

Eva-Maria Stolberg, Bonn





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