ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Manfred Heinemann (Hrsg.), Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in Deutschland 1945-1949. Die Sowjetische Besatzungszone. Unter Mitarbeit von Alexandr Haritonow, Berit Haritonow, Matthias Judt, Anne Peters und Hartmut Remmers (=Edition Bildung und Wissenschaft, Band 4, Veröffentlichung des Zentrums für Zeitgeschichte von Bildung und Wissenschaft der Universität Hannover), Akademie Verlag, Berlin 2000, 478 S., geb., 124 DM.

Der Band setzt die seit geraumer Zeit unternommenen Bemühungen des Herausgebers fort, mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews und Erinnerungen den Wiederaufbau des Hochschulwesens im Osten Deutschland zu rekonstruieren. Bedingt durch die Besatzungssituation rückt dabei das Wirkungsfeld sowjetischer Hochschuloffiziere in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Analyse dieses bislang schwer zu durchschauenden Komplexes stellt ein anspruchsvolles Vorhaben dar, denn die Forschung zur Hochschul- und Wissenschaftspolitik steht seit der völlig veränderten Quellensituation vor der Aufgabe, die These von der Sowjetisierung der Universitäten und Hochschulen in der SBZ/DDR anhand der nunmehr zugänglichen Dokumente einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Da der Zugang zu den sowjetischen Archivquellen auch in den 90er Jahren noch mancherlei Schwierigkeiten bereitet, erwies sich der Weg über Zeitzeugenbefragungen als eine Möglichkeit, das Fehlen aussagekräftigen Materials einerseits auszugleichen, anderseits aber die zugänglichen Dokumente mit den Erfahrungsberichten der damals handelnden Akteure gegenüberzustellen. Insgesamt befindet sich die Forschung zur sowjetischen Besatzungspolitik noch immer in der nicht angenehmen Lage, die tatsächlichen Formen, Wege und Kanäle der sowjetischen Einflussnahme auf die Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur in Ostdeutschland lediglich in Teilsegmenten mit Hilfe von Dokumenten befriedigend rekonstruieren zu können.

Die Beiträge dieses Bandes sind das Ergebnis eines wissenschaftlichen Kolloquiums über Hochschulpolitik der SMAD, das bereits im Jahre 1992 unter Beteiligung einer ungewöhnlich großen Anzahl deutscher und russischer Zeitzeugen stattfand. Kann das Stattfinden einer derartigen Veranstaltung als außerordentlich bemerkenswert bezeichnet werden, so ist die langjährige Verzögerung der Herausgabe des Konferenzprotokolls sehr bedauerlich, denn in der Zwischenzeit sind neue Forschungen auf dem Gebiet der Wissenschafts- und Hochschulpolitik vorangetrieben worden. So ist vor allem zu fragen, ob die Erinnerungen sowjetischer Hochschuloffiziere vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Geschehnisse Anfang der 90er Jahre ein Stück weit Aufklärung in die komplexen Zusammenhänge der sowjetischen Besatzungspraxis und einen wesentlichen Erkenntnisschub bei der Aufhellung von Hintergründen, Motiven und Absichten der sowjetischen Hochschulpolitik im Osten Deutschlands gebracht haben.

Die Antwort auf diese Frage ist angesichts der neueren archivgestützten Forschungen zur Struktur und Funktion der SMAD [ Vgl. u.a. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Struktur und Funktion, Berlin 1999.] nicht ganz einfach. Unser Wissen über die Einbindung der interviewten Zeitzeugen in die damaligen politische und soziale Kontexte wird zwar wesentlich erweitert, doch ein gravierender Durchbruch in der Rekonstruktion der Hochschulpolitik gelingt nur in Ansätzen. Unklarheit besteht weiterhin über den Anteil von Mitarbeitern der sowjetischen Militärverwaltung am Prozess der schrittweisen Zerstörung der traditionellen Ordinarienuniversität. Das liegt u.a. daran, dass sich ein Teil der russischen Konferenzteilnehmer ganz offensichtlich einem gewissen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sah. Die Berichte und Erinnerungssplitter der Zeitzeugen, die sich auf der Tagung des Jahres 1992 zu Wort meldeten, sind unübersehbar von dem Interesse dominiert, den Mitarbeitern der Abteilung Volksbildung der SMAD Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Vorwurf abzuschütteln, die sowjetische Besatzungsmacht habe den Grundstein zur Errichtung der zweiten deutschen Diktatur in Deutschland gelegt.

Dabei fällt die individuelle Rückschau auf die damaligen Geschehnisse keineswegs einheitlich aus. Nicht wenige der in dem Band enthaltenen Berichte ehemaliger sowjetischer Offiziere, die in der sowjetischen Militärverwaltung auf zentraler Ebene für die Universitäten, Hochschulen und Akademie in der sowjetischen Besatzungszone zuständig waren, zeichnen ein Bild über ihr ehemaliges Wirkungsfeld, das nicht von den Absichten geprägt war, die Universitäten zu sowjetisieren. Dem stehen die Aussagen anderer russischer Konferenzteilnehmer gegenüber, die das von Anfang an dominierende Interesse der sowjetischen Politik an der Schaffung einer sozialistischen Kultur nach sowjetischem Muster mit herrschender marxistisch-leninistischer Ideologie unterstreichen. So liest sich das Konferenzprotokoll in weiten Teilen als eine durchaus spannende Kontroverse. Zusätzliche Brisanz erhielt die Debatte durch die Teilnahme von Opfern der 1947/48 einsetzenden Verhaftungswelle an den Universitäten, so z.B. von Wolfgang Natonek, der im November 1948 als damaliger Vorsitzender des Studentenrates der Universität Leipzig verhaftet und von einem sowjetischen Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde.

Ein Anliegen der Zeitzeugen bestand ganz offensichtlich darin, die Jahrzehnte wirkenden Klischees über die Funktionsweise des Apparates der Militärverwaltung zu korrigieren. Insbesondere weisen Pjotr I. Nikitin, von 1945 bis 1949 Leiter der Abteilung für Hochschulen und wissenschaftliche Anstalten der SMAD, und sein Sohn Andrej energisch den Vorwurf zurück, die damals verantwortlichen Akteure hätten mit einer besonderen Strategie und sorgfältig ausgearbeiteten Plänen ihre Funktion im Apparat der Militärverwaltung ausgeübt. Vielmehr sei in der Realpolitik oft »aus der Situation« heraus gehandelt worden und nicht nach irgendwelchen Richtlinien, wie dies die überlieferten Unterlagen der Abteilung Volksbildung der SMAD suggerieren. Auch habe – eine zentrale These vieler sowjetischer Zeitzeugen – es die Intention gegeben, wenigstens einige alte Traditionen der deutschen Hochschule zu erhalten. Das Scheitern dieser Bemühungen sei in größerem Maße auf die ständig wachsende Aktivität und die Kompromisslosigkeit der deutschen Kommunisten – also der SED – zurückzuführen, die zur Sowjetisierung der ostdeutschen Hochschulbildung sowohl vor dem Oktober 1949 als auch nach der Gründung der DDR viel mehr beigetragen hätten als die SMAD.

Diese zentrale Botschaft konkretisiert Pjotr Nikitin Jahre später in einem eigenen Erinnerungsband. [ Vgl. Pjotr I. Nikitin, Wie ich die Universitäten und die Wissenschaft der Besatzungszone „sowjetisierte„. Erinnerungen des Sektorleiters Hochschulen und Wissenschaft der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland, Berlin 1997.] Auch hier vertritt Nikitin, der ohne Zweifel bedeutenden Anteil sowohl an der Konzipierung als auch an der praktischen Realisierung der Politik der sowjetischen Besatzungsmacht im Bereich Wissenschaft und Hochschule hatte, vehement die These von der weitgehenden Selbstsowjetisierung des ostdeutschen Hochschulsystems, bei der die zuständige Abteilung Volksbildung der SMAD nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. In diesem Apparat sei für die Universitäten und die Akademie der Wissenschaften keine Übertragung von Rezepten aus sowjetischer Erfahrung beabsichtigt gewesen. Vielmehr hätte die Deutsche Verwaltung für Volksbildung unter ihrem Präsidenten Paul Wandel mit Zustimmung anderer Dienststellen der SMAD die Hochschulen sowjetisiert. So einseitig diese These auf den ersten Blick klingen mag, so sind damit doch wesentliche Fragen nach dem Spannungsverhältnis eigener Interessen der SED-Führung und fremdbestimmten Weichenstellungen angesprochen – ein Problem, das zwar wissenschaftlich heftig diskutiert wird, über das aufschlussreiche empirische Untersuchungen jedoch nicht vorliegen.

Trotz der hauptsächlich in den Interviews und Zwischenfragen unternommenen Versuche, die Stereotypen und gängigen Erklärungsmuster zu durchbrechen, schlägt bei den Zeitzeugen immer wieder das Bemühen durch, alte Legenden zu konservieren oder die Schattenseiten der Besatzungsherrschaft zu bagatellisieren. Das betrifft insbesondere den Sinn und Zweck der Internierungslager, die Zielsetzungen, Praxis und Folgen der Entnazifizierung sowie auch die administrativen Weichenstellungen im politischen Leben der SBZ. Den beteiligten Zeitzeugen kann man schwerlich die Bereitschaft absprechen, zu einer soliden wissenschaftlichen Aufarbeitung der Tätigkeit der sowjetischen Militärverwaltung beitragen zu wollen, doch lassen die Prägung durch soziale Einbindungen, narrative Strukturen und kulturelle Überformungen das tatsächlich Erlebte nicht selten bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Somit hat der Herausgeber mit der Veröffentlichung dieses Konferenzprotokolls einmal mehr Fragen nach dem Stellenwert von Erinnerungen und Zeitzeugenforschung provoziert. Der Band verdeutlicht die keineswegs neue Erkenntnis, dass die Konzentration auf die Erinnerungsperspektive zu gravierenden Fehldeutungen führen kann. Es besteht eben zwischen persönlicher Erinnerung einerseits und der Zeitgeschichtsschreibung andererseits eine sichtbare Deutungskonkurrenz. Der Unterschied zwischen dem zur Selbstrechtfertigung neigenden Duktus der Erinnerung und dem rationalem Erklärungsanspruch der Forschung resultiert nicht zuletzt aus den unterschiedlichen Zugängen.

Ungeachtet der hier von ehemaligen sowjetischen Mitarbeitern verschiedener Dienststellen der sowjetischen Besatzungsmacht präsentierten eigenwilligen Sicht auf den Einfluss der Besatzungsmacht im Prozess der Umwandlung der Universitäten zu „sozialistischen Bildungseinrichtungen„ vermitteln die in dem Tagungsband enthaltenden Erinnerungen wertvolle Informationen über Hintergründe und das Zustandekommen von Befehlen und Direktiven der SMAD und das Verhalten ostdeutscher Politiker und Wissenschaftler gegenüber sowjetischen Offizieren, die es bei weiterführenden Analysen einzubeziehen gilt. Die geschilderten Lebensläufe und nachvollziehbaren Lebenserfahrungen tragen wesentlich zum Verständnis des Handelns der damaligen Akteure bei. Die Berichte können als Bestätigung der Annahme gesehen werden, dass ohne die Hereinnahme der sowjetischen Perspektive, die zudem in den konkreten Vergleich zur Politik der Westalliierten zu stellen ist, vieles in der Beurteilung der Hochschulpolitik in der SBZ/DDR unvollständig bleiben muss. Darüber hinaus geben die in diesem Band durchaus zu findenden Elemente einer kritischen Selbstreflexion zu der Hoffnung Anlass, dass das Verhältnis zwischen Erinnerungskultur und Zeitgeschichtsschreibung keineswegs stets konträr sein muss, sondern dass es im Gegenteil fließende Übergänge und zahlreiche gegenseitige Einflüsse gibt.

Andreas Malycha





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