ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas P. Becker/Ute Schröder (Hrsg.), Die Studentenproteste der 60er Jahre: Archivführer – Chronik – Bibliographie, Böhlau-Verlag, Köln etc. 2000. 381 S., geb., 78 DM.

Der Titel des Buches benennt, worum es sich handelt: es ist Archivführer, Chronik und Bibliografie zu den Studentenprotesten von 1965 bis 1970, wobei auf den Archivführer rund ein Viertel, auf die Chronik rund die Hälfte des Buches entfallen. Die Literaturübersicht umfasst 50 Seiten. Erschlossen wird das Buch durch ein Sach- und Körperschaftsregister sowie durch Personen- und Ortsindices. Der hervorstechende Charakter des Buches ist der eines Arbeitsmittels, das zu den archivalischen und literarischen Quellen der Überlieferung zur Studentenbewegung der 60er Jahre führt, und dieser Charakter verleiht dem Buch seinen Wert innerhalb der vielfältigen Literatur zur Studentenbewegung.

Hervorgegangen ist das Buch aus einer Arbeitsgruppe von Universitätsarchivarinnen und –Archivaren aus Bonn, Mainz, Gießen und Saarbrücken, die, ausgehend von Chroniken der einzelnen westdeutschen Universitäten, die teilweise im Zusammenhang dieses Archivführers erstellt wurden, eine deutschlandweite Chronik zusammengestellt haben. Ohne dass die Ausnahmestellung Berlins bestritten würde - die wird eher unterstrichen -, stehen dennoch nicht die dramatischen Ereignisse in den sogenannten Zentren der Bewegung im Vordergrund, sondern die oftmals banaleren Protestereignisse an den westdeutschen Universitäten im Kontext der Hochschulreform: Go-ins, Teach-ins, Demonstrationen, Störungen von Vorlesungen, Tumulte, Anträge auf Herstellung von Öffentlichkeit, polizeiliche Räumungen, Prozesse etc., diejenigen Ereignisse mithin, die aktenkundig werden sollten und in den Staats- oder Universitätsarchiven, Medien- oder Bewegungsarchiven in verschiedenster Weise ihren Niederschlag gefunden haben.

Daneben verzeichnet die Chronik ausgesuchte parallele Vorgänge im Ausland und andere kontextuelle Zusammenhänge, ohne dass die Chronik deshalb ausufern würde. Aufgenommen sind zentrale Anti-Vietnamkriegsdemonstrationen in den USA, die Chronik der namengebenden Revolte im Pariser Mai, der Einmarsch in die Tschechoslowakei, die Gründung der DKP u.a.m. Entstanden ist ein gut handhabbares Arbeitsmittel, das zudem durch seine gute Erschließung dazu verführt, es nach einzelnen Orten, Ereignissen oder Gruppierungen etc. zu durchsuchen. Solche punktuelle Nutzung ist erfolgreich oder nicht, trial and error gehören zum Geschäft der Recherche, und mit diesem Buch wird man mit mehr Erfolg forschen können, aber ich möchte noch für eine andere Nutzung plädieren. Das Kunststück ist, das Buch von vorn nach hinten und in allen drei Teilen gleichzeitig zu lesen.

Es gilt nämlich, die Ereignisse in Hinsicht auf die verschiedenen beteiligten Akteure, auf ihre Kontexte und die unterschiedlichen Aktionsebenen sowie auf ihren Niederschlag in Akten und in den Medien in Augenschein zu nehmen. Daraus ergeben sich die weitergehenden Fragen an die Archive. Auch die Beschreibung der Archive und ihrer Bestände eröffnet neue Perspektiven auf die verschiedenen Handlungsebenen und Akteure, die sonst leicht nicht bedacht werden. Es macht in quellenkritischer Hinsicht einen wesentlichen Unterschied, ob kommunale und andere Archive aus organisatorischen oder lokalen Gründen zu Ereignissen, Themen oder Gruppen gesammelt haben oder ob die Unterlagen aus der Tätigkeit der Akteure selbst überliefert sind.

Die bedeutendsten Bestände letzterer Art werden von einigen wenigen Archiven in der Bundesrepublik und in den Niederlanden verwahrt. Zu allererst zu nennen sind das Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, das Archiv „APO und soziale Bewegungen„ am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin und das Archiv des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte – einschließlich des ID-Archivs im IISG – in Amsterdam. Die Beschreibungen der Bestände dieser Archive leiten die Archivübersicht ein. Dabei wird nicht immer klar, wo Organisationen ihre Unterlagen an das Archiv übergeben haben und wo Dritte zu Themen, Ereignissen und Organisationen gesammelt haben, denn auch die Unterlagen der Akteure haben oftmals einen Sammlungscharakter, was erhebliche Problematik für die archivische Erschließung und dementsprechend für die künftige Nutzung aufwirft. Der Überlieferung von Flugblättern, Broschüren – grauer Literatur – und Zeitschriften widmen sich neben den genannten Archiven insbesondere die Bibliothek für Zeitgeschichte in Stuttgart, das Archiv für alternatives Schriftgut (afas) in Duisburg u.a.m.

In einzelnen Fällen haben ASten und Studentenparlamente Unterlagen an das jeweilige Universitätsarchiv abgegeben, häufiger lassen sich Sammlungen von Flugblättern, studentischen Zeitungen und Zeitungsausschnitten finden, in denen die Studentenschaft Objekt der Sammlung sind. Die acht Regalmeter Sachakten des Erlangen-Nürnberger und die sieben des Stuttgarter AStAs sind die Ausnahmen, neben denen noch die ASten der Freien Universität Berlin, Bonn, Braunschweig, Tübingen und Würzburg – auch mit einem umfangreichen Bestand zum VDS – zu nennen sind. Aber auch die Archivalien der Sebstverwaltungsorgane der Universitäten sind nicht so einfach zugänglich. In vielen Fällen gibt der Archivführer den Hinweis, dass die Unterlagen noch nicht abgegeben oder noch nicht verzeichnet seien oder dass sie gesperrt seien, was in vielen Fällen auf Gründe des Personenschutzes zurückzuführen sein dürfte.

Ein Archivführer wie der vorliegende kann eigentlich nie vollständig sein, das ergibt sich schon aus dem dynamischen Charakter des Forschens, aus der fortlaufenden Arbeit des Archivierens, aus den Beschränkungen, die einer Literaturübersicht gesetzt sind. Chroniken, die durch gezielte Auswahl entstehen, sind per se lückenhaft. Der Tiefe jeder Archivbeschreibung sind enge Grenzen gesetzt. Vielleicht, dass man einmal von dem Prinzip der Selbstdarstellungen abginge. Auch die zeitliche Eingrenzung auf die Jahre von 1965 bis 1970 ist gut begründet, obwohl eine tiefere Zäsur um das Jahr 1977 anzusetzen wäre. Ein größeres Problem ergibt sich aus der teilweisen Spezialisierung einzelner Archive auf bestimmte Materialarten. Manche Archive sind eher Spezialbibliotheken. Entscheidend ist, dass die Überlieferung des studentischen Protestes die unterschiedlichen Materialarten berücksichtigen muss. Wie archiviert man ein Happening? Eigentliche Aktenbildung dürfte für die Rote Zelle Germanistik eher untypisch sein, weshalb die Überlieferung von Flugblättern, Broschüren, Bild- und Tondokumenten an Gewicht gewinnt. Auffällig häufig sind Fotosammlungen nachgewiesen. Es gibt aber spezielle Musikarchive und Fotoarchive, auf die vielleicht hätte hingewiesen werden sollen und die in diesem Zusammenhang auch deshalb interessant sind, weil die Archivierung von Protestbewegung und Popkultur manchmal Hand in Hand geht. Die Platten von "Ton, Steine, Scherben" kann man nicht nur im Plattenladen kaufen, man kann sich über die Gruppe auch im Rio-Reiser-Archiv informieren. Auch die Grenze zwischen Ost und West ist keine Archivschranke mehr. Die Humboldt-Universität bewahrt in ihrem Institut für Europäische Ethnologie das Archiv für Alternativkultur mit der Sammlung Josef Wintjes auf, eine Fundgrube für den literarischen Underground der Studentenbewegung. Wenn also eine Lücke zu kritisieren wäre, dann am ehesten, was die kulturellen und künstlerischen Aspekte des Protestes betrifft, denn wo bestimmte Konturen durch klassische archivalische Überlieferung nicht erfasst werden, weil eine Aktenführung nie existiert hat, scheint die der kulturellen Formen um so wichtiger. Ein letzter Hinweis betrifft das Bundesarchiv, das in anderen Zusammenhängen Erwähnung findet, aber das auch bezüglich der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) wegen der Kontakte zwischen SDS und FDJ einen Hinweis verdient hätte.

Christoph Becker-Schaum, Berlin





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