ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stephen A. Schuker (Hrsg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Bd.46), Oldenbourg, München 2000, XX, 280 S., geb., 98 DM.

Zu den Pflichten eines Stipendiaten im Historischen Kolleg gehört u.a. die Durchführung einer Konferenz im Rahmen des von ihm bearbeiteten Projekts. Stephen Schuker erfüllte diese Aufgabe im Kollegjahr 1996/97 mit einem Kolloquium über die „Westeuropäische Sicherheit und die deutsch-französischen Beziehungen 1914-1963„. „Kriegsziele und Friedensschluss, 1914-1919„; „Sicherheitsfragen und Wirtschaftsbeziehungen in den Zwanziger Jahren„; „Die Herausforderung des Nationalsozialismus und die Appeasement-Politik„; „Kohle, Stahl und ein neues Konzept für Europa, 1945-1954„; „Die Supermächte und die westeuropäische Sicherheit„, so lauteten die Titel der fünf Sektionen, zu denen achtzehn Referenten und Kommentatoren Stellung bezogen.

Der nun vorliegende Tagungsband zeugt von einer bemerkenswert engagierten Debatte, deren Lebhaftigkeit schon im ersten Teil spürbar wird. Während David Stevenson die französischen Kriegsziele vor dem Hintergrund profunder Archivforschungen kaum weniger ausgreifend als die deutschen einschätzt, betont Elisabeth Glaser mit Blick auf die handelspolitischen Ambitionen beider Staaten die Aggressivität des Deutschen Reiches. Wie auftrumpfend-maßlos Deutschland mitunter auftrat, belegt Gerald Feldman anhand der Frankreich-Politik von Hugo Stinnes. Ein Versöhnungsfriede, so lautet das eindeutige Fazit der luziden, auf seiner Stinnes-Biographie beruhenden Ausführungen, sei zwischen den beiden Nachbarn nicht möglich gewesen.

Der Versailler Vertrag gilt in der Wissenschaft heute als zu hart und zu weich zugleich. Wieso die „Logik von Versailles„ (Franz Knipping S. 136) in den 20er Jahren trotz aller Verständigungsbemühungen beherrschend blieb, beleuchten die hochinteressanten, bisher unzugängliche Akten auswertenden Studien von Peter Krüger und Jacques Bariéty über Carl von Schubert und Aristide Briand. Obwohl beide Politiker danach trachteten, einen bilateralen Ausgleich auf sicherheitspolitischem Terrain zu erreichen, gelang es ihnen letztlich nicht, über den Schatten der nationalen Interessen zu springen. Große Erwartungen setzten die in dieser Epoche um Annäherung bemühten Politiker in Berlin und Paris auf die Ökonomie. Am Beispiel internationaler Kartelle vermag Clemens Wurm eindrucksvoll zu demonstrieren, wie begrenzt der Einfluss der Wirtschaft auf die internationale Politik allerdings war. Zwar konnten die Kartelle das deutsch-französische Verhältnis zeitweilig entlasten; die Hoffnung auf einen „spill-over-Effekt„ zwischen industrieller Kooperation und politischer Versöhnung erwies sich jedoch als verfehlt.

Als sich die europäische Sicherheitslage in den 30er Jahren verschärfte, flüchtete Frankreich wie auch England in die Politik des „Appeasement„. Wie die profunden Beiträge von Gustav Schmidt und Martin Alexander über die englische bzw. französische Außenpolitik dieser Zeit verdeutlichen, war dafür einerseits die erst spät revidierte Weigerung Londons maßgeblich, dem Bündnispartner militärischen Schutz zu gewähren, andererseits die Unfähigkeit der Pariser Regierungen, Maßnahmen zu einer effektiven Verteidigung einzuleiten.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs mutierte die „Erzfeindfeindschaft„ innerhalb von zwei Dezennien zur „Entente élémentaire„. Über die Ursachen dieser wundersamen Entwicklung liegen in der Forschung unterschiedliche Meinungen vor. Nicht einmal über die Frühphase herrscht Konsens, wie die Referate von Dietmar Hüser, John Gillingham und Matthias Kipping zeigen. Hüser erneuert seine nicht unumstrittene These, wonach Frankreich im Rahmen einer „doppelten Deutschlandpolitik„ (S. 181) schon 1945/6 die Notwendigkeit erkannt habe, auf den angelsächsischen Kurs der Integration Deutschlands einzuschwenken, aus innenpolitischen Erwägungen indes bis 1948 an der Dominanzpolitik festgehalten habe. Gillingham reduziert mit spitzer Feder den Einfluss Jean Monnets auf die europäische Einigung zu Beginn der 50er Jahre, misst dessen Rolle als Mittler zwischen den USA und Westeuropa hingegen um so höhere Bedeutung zu. Kipping deutet den Schuman-Plan in dezidiertem Widerspruch zu gängigen Forschungsmeinungen als „einen deutlichen Bruch mit der Vergangenheit„ (S. 229) und argumentiert dabei wie in seiner Dissertation aus der Sicht der französischen verarbeitenden Industrie. Allen drei Untersuchungen haftet neben der revisionistischen Tendenz eine mehr oder minder schwach ausgeprägte Bereitschaft an, andere Auffassungen in die Urteilsfindung einzubeziehen.

Auch der Aufsatz von Marc Trachtenberg über die USA, Frankreich und das Problem der deutschen Macht regt zu kritischen Nachfragen an. Trachtenberg behauptet nicht nur, dass die Übertragung voller Großmachtrechte auf die Bundesrepublik die Sowjetunion in den 50er Jahren zur Entfesselung eines Weltkrieges provoziert hätte; er wirft den USA auch vor, die 1954 fixierte Begrenzung der Bonner Souveränität im Zuge der Debatte über den Aufbau einer europäischen Nuklearstreitkraft zeitweise preisgegeben und damit die zweite Berlin-Krise indirekt ausgelöst zu haben.

Weniger spektakulär wirken die Analysen von Cyril Buffet über die deutsch-französische Aussöhnung der Jahre 1944-1963. Auf der Suche nach den Ursachen dieses „phénomène complexe de la mentalité collective„ (S. 250) weist Buffet anhand von Meinungsumfragen plausibel nach, dass die Hinwendung der Franzosen zu den Deutschen nicht primär ein Produkt des hehren Wunsches nach Völkerverbrüderung, sondern der nüchternen Staatsinteressen war.

Das von Stephen Schuker in der Einleitung propagierte Ziel, „den gegenwärtigen Forschungsstand zu den deutsch-französischen Beziehungen zu diskutieren„ (S. VII), erreicht der Sammelband nur bedingt. Seine innovativen und herausfordernden Interpretationen werden die Forschung aber gewiss noch lange beschäftigen.

Ulrich Lappenküper, Bonn





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