ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Lukas Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau. Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965 (=Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe B, Forschungen, Bd. 89), Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2000, 716 S., geb., DM 142 DM

„Wenn irgend etwas für die katholische Soziallehre und den sozialen Katholizismus ein zentrales Anliegen ist, dann kann es nur die Familie und eine familienfreundliche Politik sein„. Lukas Rölli-Alkemper nimmt dieses Diktum Oswald von Nell-Breunings, des Nestors der katholischen Soziallehre, als Ausgangspunkt für die Begründung seines Forschungsgegenstands. Trotz der zentralen Bedeutung von Ehe und Familie stelle die Geschichte dieser Institutionen im Horizont des deutschen Katholizismus der frühen Bundesrepublik ein Desiderat dar. Rölli-Alkemper will und kann mit seiner differenzierten und viele Aspekte berührenden Studie nicht nur diese Lücke schließen. Indem er nach dem Anteil des Katholizismus am Aufschwung bürgerlicher Familienideale in den 1950er Jahren fragt, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik. Die umfangreiche, sehr klar geschriebene Dissertation entstand bei Urs Altermatt in Freiburg/Schweiz. Sie ist als Beitrag zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Katholizismus angelegt und den modernisierungstheoretischen Ansätzen Urs Altermatts und Franz-Xaver Kaufmanns verpflichtet.

Die Studie gliedert sich in vier Untersuchungsbereiche: Erstens analysiert der Autor den Stellenwert von Ehe und Familie in der katholischen Lehre und Weltanschauung, um sich zweitens dem Verhältnis von kirchlichen Geboten zu Eheschließung und –scheidung und den Einstellungen der Katholiken zu diesen Geboten und der kirchlichen Sexualmoral zuzuwenden. Daran knüpft er die Analyse katholischer familialer Alltagskultur. Drittens untersucht er die Familienseelsorge im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess. Der vierte und letzte Bereich umfasst die katholischen Interessenvertretungen und ihre Lobbyarbeit sowie die politischen Forderungen und Einflussnahme der katholischen Organisationen und Eliten auf die staatliche Familienpolitik und das Familienrecht sowie die Grenzen dieses Engagements. Diese breit angelegte Konzeption erweist sich als Stärke: Die Verknüpfung dieser Bereiche ermöglicht historische Erklärungen für den tiefgreifenden Wandel, der sich im Deutschen Katholizismus zwischen Kriegsende und dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzog.

In ihrer Bestimmung von Ehe und Familie folgte die katholische Kirche in den 50er Jahren unverändert der naturrechtlichen Begründung, die Papst Pius XI in der Enzyklika Casti Connubii im Jahr 1930 formuliert hatte. Danach bestimmte sich das „Wesen„ der Familie als „natürliche Gemeinschaft zur Fortpflanzung, Erziehung und ersten sozialen Gewöhnung der Menschheit„. Ihre innere Verfassung wurde hierarchisch gedacht: Die Eltern waren ihren Kindern, der Mann seiner Frau übergeordnet. „Natürliche Wesensmerkmale„ bestimmten die Rangordnung und Aufgabenverteilung der Ehegatten, wonach dem Mann Leitungsfunktion und Wirken in der Öffentlichkeit, der Frau häusliches und erzieherisches Wirken zugeschrieben wurden. Dafür fand sich die Formel: der Mann ist das „Haupt„, die Frau ist das „Herz„ der Familie.

Der sich bald einstellende Erfolg eines Engagements, das die Familie ins Zentrum des gesellschaftlichen Wiederaufbaus stellte und das Familienleitbild offensiv in Politik und Gesellschaft hinein trug, bestärkte die Kirchenführung in ihrer Überzeugung, dass die „Wiederverchristlichung„ der Familie gleichzeitig die Grundlage für die Rechristianisierung der gesamten Gesellschaft bilden würde. Die Positionen, die die katholische Kirche gegenüber der Bundesregierung und dem Parlament vertrat, wurde von einer kleinen Expertengruppe um Prälat Wilhelm Böhler, dem Leiter des Katholischen Büros in Bonn, definiert. Sie hatten maßgeblichen Einfluss auf die Familienrechtsreform der 50er Jahre. Doch Ambitionen wie die Einführung der fakultativen Zivilehe und die Abschaffung der Ehescheidung wurden von Bundeskanzler Adenauer und den Unionsparteien zurückgewiesen. Damit scheiterte auch der weitergehende Versuch, dem Staat Normierungskompetenzen in Sachen Ehe und Familie streitig zu machen. Diese „Selbstüberschätzung der katholischen Kirchenführung„ (S. 603) sensibilisierte zudem Liberale und Sozialdemokraten gegenüber den massiven Interventionen der katholischen Kirchenführung und führte zur Entstehung einer Klerikalisierungsdebatte. Darüber hinaus trug sie dazu bei, dass die evangelische Kirchenleitung, die den katholischen Positionen zur Zivilehe und Ehescheidung anfangs sehr nahe war, sich immer mehr distanzierte.

Das Beharren auf naturrechtlichen Konzepten führte nicht nur in der Politik zum Verlust der Normierungskraft, auch im katholischen Milieu sank die Akzeptanz des kirchlichen Familienleitbildes. Während die Familienseelsorge eine Verinnerlichung der Familienfrömmigkeit anstrebte, durchdrangen christliche Rituale immer weniger den Alltag der Katholiken; Alltagsfrömmigkeit beschränkte sich auf das Tisch- und Abendgebet. Trotz des Kampfes der Kirche gegen den „Ehemissbrauch„ sank die Geburtenzahl. Empfängnisverhütung war nur ein Hinweis darauf, dass die Diskrepanz zwischen den Normen der Moraltheologie und der von den Katholiken gelebten Praxis wuchs. Das Leitbild der verantworteten Elternschaft, das die natürliche Geburtenregelung nach Knaus-Ogino integrierte, stellte seit Anfang der 60er Jahre eine gewisse Anpassungsleistung des Leitbildes an die sozialen Realitäten dar. Mit der Erfindung der Pille wurde aber Familienplanung zum Schlüsselproblem des Katholizismus in der Auseinandersetzung theologischer und kirchlicher Leitbilder mit der gesellschaftlichen Modernisierung.

Mit der Formel „Anpassung im Widerstand gegen die Modernisierung„ charakterisiert Rölli-Alkemper die Haltung der katholischen Kirche gegenüber den sich am Ende der 50er und am Anfang der 60er Jahre stellenden gesellschaftlichen Herausforderungen. Zwar forderten fortschrittliche Sozialethiker, das naturrechtlich begründete Ordnungsbild der Familie an soziale Veränderungen anzupassen. Sie sprachen sich damit für das neue Leitbild der partnerschaftlichen Ehe aus und eine positivere Bewertung der ehelichen Sexualität aus. Davon unberührt blieb allerdings die Vorstellungen über die geschlechtsspezifische Arbeitsverteilung in Haushalt und Beruf. Zwar entwickelten Kirche und katholische Frauenbewegung das Idealbild „einer weltoffenen gebildeten Mutter, die den Interessen ihres Mannes folgend und ihren Kindern die moderne Welt erklären konnte„ (S. 614) und erwarteten deshalb auch eine berufliche Qualifizierung der jungen Frauen. Doch mit der Familiengründung sollte sich die Tätigkeit der Ehefrau und Mutter auf Haushalt und Familie beschränken.

In seinem Fazit würdigt Rölli-Alkemper den Katholizismus als eine Kraft, die in den 50er Jahren familiale Werte maßgeblich gestärkt, die aber aufgrund der Modernisierung des Leitbildes zur fundamentalen Erschütterung der Institution Ehe und Familie beigetragen habe. Der Autor benennt in seiner Studie die Probleme katholischer Morallehre, versäumt aber darzulegen, welche Konflikte und Verwerfungen das Spannungsverhältnis von kirchlichen Geboten und sich radikal verändernder Lebenswelt für katholische Ehen und für Einzelne verursachen konnte; dies betrifft sowohl die restriktive Sexualmoral, die Einstellung zu Ehescheidung und Schwangerschaftsabbruch als auch die Haltung der Kirche zur Erwerbstätigkeit von Ehefrauen. Ebenso vernachlässigt der Autor repressive Aspekte der katholischen Familienpolitik jenseits der Frage der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die sich in der Diskriminierung aller nicht normgemäßen Lebens- und Familienformen, i.e. außerehelicher Lebensgemeinschaften (z.B. der »Onkelehen«), Homosexueller und nichtehelicher Kinder aktualisierten. An einem Beispiel lässt sich verdeutlichen, dass er dadurch auch seiner Zielsetzung, Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse zwischen Leitbildern, Politik und Alltagskultur im deutschen Katholizismus aufzuzeigen, nicht gerecht wird: Rölli-Alkemper bezieht sich auf Umfragen, nach denen sich die Einstellungen katholischer Gläubiger zu vorehelicher Sexualität und nichtehelichen Kindern seit Anfang der 60er Jahre fundamental zugunsten einer grundsätzlichen Akzeptanz veränderten. Er versäumt aber das Spannungsverhältnis zwischen Kirchenvolk und Kirchenleitung darzustellen: Die Bischofskonferenz und mit ihr die katholischen Organisationen befürworteten zwar eine Reform des Nichtehelichenrechts, eine rechtliche Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder lehnten sie aber strikt ab. Die Einstellung der katholischen Kirche zu und ihr Umgang mit Phänomenen, die sich konträr zu den Leitbildern verhielten, sollten als Bestandteile der Sozialgeschichte des Katholizismus in der Bundesrepublik genauer diskutiert werden. Dies stellt sich als Aufgabe für weitere Untersuchungen in diesem neubestellten Feld.

Sybille Buske




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