ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Elena Osokina, Our Daily Bread. Socialist Distribution and the Art of Survival in Stalin’s Russia, 1927-1941, M.E. Sharpe, Armonk NY 2001, 254 S., hardcover, 64,95 $.

Stalins „Revolution von oben„ markierte Ende der zwanziger Jahre eine tiefe Zäsur in der sowjetischen Geschichte. Mit der abrupten Beendigung der „Neuen Ökonomischen Politik„ kündigte das Regime die Koexistenz zwischen staatlicher und privater Wirtschaft auf. Zugleich sagte es den „Profiteuren„ der NEP, den zahlreichen kleinen Händlern und Gewerbetreibenden den Kampf an. Osokinas „Daily Bread„ zeichnet in überzeugender Weise – auf der Grundlage von russischem Archivmaterial – die Überlebensstrategien der sowjetischen Bevölkerung nach. In der Zeit der ersten drei Fünfjahrespläne (1928-1941) erhielt die Planwirtschaft ihre entscheidende Ausformung, wie sie die Sowjetunion bis zu ihrem Zerfall prägen sollte. Daneben entstand ein illegaler Markt, der sich nach Osokina in Symbiose mit der Planwirtschaft entwickelte und ein Korrektiv darstellte.

Die Gewerbemessen wurden im Frühjahr 1929 verboten, dann folgte die Schließung der Bauernmärkte im Zuge der Kollektivierung. Letztere mussten aufgrund des bäuerlichen Widerstandes 1932 von der Regierung partiell wieder zugelassen werden. Die erhöhte Nachfrage seitens der Verbraucher löste einen starken Inflationsdruck aus. Das Geld verlor bis zu 40% an Wert, Genossenschaften und Konsumenten gingen zur Tauschwirtschaft über (S. 45). Leidtragend war die Masse der armen städtischen und ländlichen Bevölkerung. Der Staat antwortete mit der Rationierung von Lebensmitteln, allen voran Brot und Fleisch. Die Reaktion der Bevölkerung blieb nicht aus: es kam zu Streiks, an denen sich vor allem Frauen beteiligten. Auf dem Land wurde ein Viertel der Protestaktionen von Frauen organisiert. Leider lässt Osokina die Unzufriedenheit der ethnischen Minderheiten, die ebenfalls unter den Versorgungsengpässen litten, unerwähnt.

Die Sowjetunion blieb von der Idee der sozialen Gleichheit weit entfernt. Die von der Regierung verfügte Rationierung schuf eine soziale Hierarchie der Privilegierung. An der Spitze standen Funktionäre der Partei- und Staatsbürokratie, des NKVD und Militärs, am untersten Ende die „unproduktiven„ Mitglieder der Gesellschaft wie Kinder, Alte und Invaliden. Die Privilegierten hatten Zugang zu Spezialläden mit niedrigen Preisen, sie erhielten bessere Wohnungen, medizinische Versorgung und Bildung. Dieses System hatte im wesentlichen Bestand bis zum Ende der Sowjetunion. Durch Privilegien, so weist Osokina überzeugend nach, wurde die Loyalität der Eliten zum Regime garantiert (S. 69). Jede Berufsgruppe wie z.B. die Militärs, die sowjetischen Schriftsteller, Mitglieder der Akademie der Wissenschaften hatte ihr eigenes Versorgungssystem von Geschäften, Kantinen und Restaurants, zu denen Außenstehende keinen Zugang hatten. Die soziale Trennung vollzog sich durch alle Bereiche des Alltagslebens (S. 80).

In diesem System konnte nur derjenige bestehen, der über Beziehungen („blat„) verfügte. Damit einhergehend bot sich hier ein idealer Nährboden für Korruption und Wirtschaftskriminalität. Diebstahl an „sozialistischem Eigentum„ in Fabriken, Behörden und Kolchosen, Spekulation und Steuerhinterziehung waren an der Tagesordnung. Von März bis April 1932 betrug allein in elf Gebieten (oblast’) der RSFSR die Veruntreuung staatlicher Gelder fast fünf Millionen Rubel. 1934 lag in Kiev das Ausmaß der Steuerhinterziehungen monatlich zwischen 500.000 und 1 Million Rubel. Steuerhinterziehung wurde zum „Volkssport„, betrieben nicht allein von Funktionären, sondern auch vom „kleinen Mann„. Jede Familie hatte neben den regulären Einkommen ihre Nebeneinkünfte. Ärzte, Näherinnen und Friseure boten ihre Dienstleistungen zu Hause an, Lehrer gaben Privatunterricht. So entstand unter der Oberfläche der Planwirtschaft ein illegaler, freier Markt an Konsumgütern und Dienstleistungen. Angebot und Nachfrage, nicht staatlicher Dirigismus, bestimmten die sowjetische Schattenwirtschaft. Jenseits der Planungsmanie des Regimes fand der einzelne Sowjetbürger seine Nische für eigenverantwortliches wirtschaftliches Denken und Handeln. Das Fazit, das sich nach der Lektüre ziehen lässt, ist, dass das Überleben der sowjetischen Bevölkerung in der Mangelwirtschaft von Einfallsreichtum und Pragmatismus gekennzeichnet war. Leider bricht die hervorragende Darstellung abrupt mit dem Jahr 1941 ab. Die Auswirkungen des Krieges und des Wiederaufbaus nach 1945 auf das Wechselspiel zwischen Planwirtschaft und illegalem Markt werden ausgeblendet.

Eva-Maria Stolberg, Bonn


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