ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alexander Nützenadel, Landwirtschaft, Staat und Autarkie. Agrarpolitik im faschistischen Italien (1922-1943), Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1997, 477 S., Ln., 138,00 DM.

Diese Untersuchung füllt eine bedauernswerte Lücke der historischen Forschung. Die faschistische Agrarpolitik, die bisher entweder auf einer rein propagandistisch-ideologischen Ebene oder in Gesamtdarstellungen oft nur am Rande untersucht wurde, um in den meisten Fällen hauptsächlich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des faschistischen „Ruralismus„ hervorzuheben, wird nun in diesem Buch von Alexander Nützenadel einer allumfassenden und ausführlichen Analyse unterzogen. Es werden auch mittels zahlreicher veranschaulichender Tabellen die verschiedenen Etappen der staatlichen Agrarpolitik des Faschismus dargestellt, die in den Urbarmachungs- und Siedlungsprogrammen einige ihrer Höhepunkte erlebten. Dabei setzt sich der Autor mit den wichtigsten Ergebnissen der bisherigen Forschung auseinander, von der sowohl in der Einleitung als auch durch eine reichhaltige Bibliographie ein erschöpfender Überblick geboten wird. Eine besondere Beachtung erhalten die zwei entgegengesetzten Hauptinterpretationen: einerseits die auf Sereni zurückzuführende traditionelle Deutung, die faschistischen Agrarmaßnahmen hätten vor allem eine Festlegung überkommener Verhältnisse und daher eine Zementierung rückständig feudaler Strukturen auf dem Land bedeutet und die „ruralistische„ Propaganda des Faschismus sei hauptsächlich als ideologische Kompensation für den realen Bedeutungsverlust der Landwirtschaft zu verstehen, andererseits die kaum von der späteren Forschung aufgegriffene und vertiefte Modernisierungsthese Corners.

Durch eine gründliche Auswertung zeitgenössischer Publizistik und einschlägiger Archivbestände wird im Buch die Grundthese vertreten, die Landwirtschaftspolitik des Faschismus sei in vielen praktischen Entscheidungen nicht so sehr durch langfristige oder ideologisch fixierte Zielvorstellungen, sondern vielmehr durch unmittelbare wirtschaftspolitische Probleme und durch eine situationsbedingte Planung bestimmt worden, in dem oft externe außeragrarische Handlugsmotive und Faktoren eine ausschlaggebende Rolle gespielt hätten.

Die Untersuchung der unterschiedlichen politischen Konzepte und der legislativen Maßnahmen verbindet der Autor mit der Überprüfung der Handlungsspielräume und der praktischen Durchsetzungsmöglichkeiten der politischen Ziele, sowie der sich daraus ergebenden Folgen für Produktion, Marktbeziehungen und Einkommen in der faschistischen Landwirtschaft. In der Berücksichtigung sowohl der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen als auch der Verflechtung mit anderen Politikfeldern, wie Finanzen, Währung und Außenhandel werden die ökonomischen Zusammenhänge in ihren politisch-institutionellen Kontext gesetzt. Dabei kommt oft der Zielkonflikt zwischen entwicklungspolitischen Vorstellungen (wie Stabilisierung der Märkte, Ausgleich der Handelsbilanz, Erhöhung der Produktion) und ordnungspolitischen Erfordernissen (wie Agrarreform, Bodenordnung) zum Vorschein, wobei dieser Konflikt sich tendenziell zugunsten der ersteren zu entscheiden schien.

Die Perspektive, die der Autor für die Darstellung wählt, ist vor allem diejenige der politischen Akteure und Entscheidungsträger wie Mussolini und die „Agrartechnokraten„ innerhalb der Ministerialbürokratie. Doch gerade in der Überprüfung ihrer Rolle erscheint deutlich, wie ihre tatsächlichen Machtbefugnisse durch die zahlreichen von Parteifunktionären besetzten Sonderbehörden, durch die Syndikatsverbände und durch die parastaatlichen Wirtschaftsorganisationen begrenzt wurden. Auch aus dieser Sicht erscheint nun die zuweilen in der Forschung vorkommende Frage berechtigt, ob die faschistische Diktatur ein monokratisches oder ein mehrdimensionales Herrschaftssystem gewesen sei. Auf dieser Weise bekommt die Untersuchung der faschistischen Agrarpolitik einen bedeutenden heuristischen Wert für ein tiefgreifenderes Gesamtverständnis des faschistischen Staates.

Es kommt im Buch deutlich zum Vorschein, wie der „Ruralismus„ in der Zeit des Faschismus eine wichtige Mobilisierungsfunktion erhielt, denn sein „polyvalenter„ Charakter schien der Staatspropaganda als besonders wertvoll zur Bündelung verschiedener gesellschaftspolitischer Wertvorstellungen. Es wurde ihm die Rolle einer nationalen Integrationsideologie zugesprochen, die der politischen Bindung auch der nicht agrarischen Bevölkerung an den Staat dienen sollte. In Wahrheit besaß die faschistische Partei vor der Machtübernahme wegen des von Mussolini beabsichtigten Verzichts auf ein festes Programm keine bestimmte „Agrarideologie„ und auch kein geschlossenes landwitschaftspolitisches Konzept - anders als der Nationalsozialismus mit der „Blut-und-Boden„-Ideologie. So verfügte Mussolini, als er am 30. Oktober 1922 die Regierung übernahm, über keine ideologische und politische Führungsfigur auf dem Gebiet der Agrarpolitik, wie sie Walther Darré für die NSDAP darstellte. Daher kamen die wichtigsten Anregungen bei der Formulierung agrarpolitischer Konzepte von Personen, die zunächst der Bewegung fernstanden, wie z. B. vom bekannten Agrarökonomen Arrigo Serpieri, dessen wichtige Rolle und dessen Gedanken der Autor zu Recht hervorhebt und ausgiebig beschreibt. Besondere Beachtung in der Darstellung des kulturellen Kontexts des faschistischen „Ruralismus„ erhält auch die 1924 entstandene Gruppe „Strapaese„, die anders als der agrarische Konservatismus von Serpieri sich als kulturelle Bewegung des radikalen agrarischen Provinzfaschismus verstand und die Idealisierung der Unverdorbenheit und Ursprünglichkeit des ländlichen Lebens gegen die Degeneration und Korruption der Großstadt als Ausgagspunkt für die faschistische Revolution betrachtete. Zu ihren Gründern und zu ihrem Umkreis gehörten militante Kämpfer des „squadrismo„ wie Soffici und Maccari aber auch bekannte Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle wie Kurt Erich Suckert (alias Curzio Malaparte), Giovanni Papini und Leo Longanesi. Zwar fehlten der Ideologie dieser Gruppe die biologistischen und völkischen Argumentationsmuster der NS-Bauerntumsideologie des „Blut und Boden„, doch war ihr ein unterschwelliger Rassismus mit gelegentlichen antisemitischen Parolen nicht fremd.

Was Mussolinis bevölkerungs- und agrarpolitische Erwägungen angeht, so waren sie mit machtpolitischen Zielen verbunden und Bestandteil eines umfassenderen Weltbildes, das von einem populärwissenschaftlichen auf Spengler und Korherr zurückzuführenden Kulturpessimismus beeinflusst war. Doch erfolgte die „ruralistische„ Wende in Mussolinis Politik erst im Sommer 1925 durch die „Getreideschlacht„ („battaglia del grano„) und die weiteren landwirtschftlichen „Produktionsschlachten„. Eine bis ins Detail gesteuerte Propagandamaschine sollte nun der „ruralistischen„ Ideologie des Faschismus Gestalt und Richtung geben und sowohl den Primat der Landwirtschaftspolitik ausdrücken als auch die ländliche Bevölkerung für die politischen Ziele und Leitideen des faschistischen Staates mobilisieren. Durch die mit der „Getreideschlacht„ begonnene ideologische Aufwertung der Agrarwirtschaft und der traditionellen ländlichen Lebenswelt, die der Autor als eine Form von „moral suasion„ betrachtet, hoffte Mussolini auch bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie die Kirche anzusprechen. In der Tat kam es im Zuge der „Getreideschlacht„, vier Jahre vor dem Abschluss des Konkordats, erstmals zu einer konkreten Zusammenarbeit zwischen dem faschistischen Staat und der Kirche, die sich bisher dem Faschismus gegenüber eher distanziert verhalten hatte.

Doch zeigt der Autor auch, wie die faschistische Agrarpolitik im Laufe der Zeit deutliche Konsensverluste innerhalb der ländlichen Bevölkerung erfahren musste. So verursachte die Einführung im Sommer 1936 des Zwangsablieferungssystems im Rahmen einer umfassenden Autarkieplanung, welche die gesamte Landwirtschaft auf die Erfordernisse eines zukünftigen Krieges vorbereiten sollte, einen fortschreitenden politischen Entfremdungsprozess zwischen der faschistischen Führung und der Agrarwelt, wie es ohne Zweifel in den harten Worten von Serpieri zur Deutung kommt, als er die Folgen der obengenannten Maßnahmen als „totalitäre Bürokratisierung des ländlichen Lebens, mit der Last einer unfähigen und häufig unehrlichen Verwaltung„ beschreibt.

Andrea D’Onofrio, Neapel


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