ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Böhlau Verlag 2000, 436 S., brosch., 54 DM.


Ein großer wissenschaftlicher Reigen versammelt sich derzeit unter dem Modewort der Kommunikations- und Mediengeschichte, um traditionelle Thematik in neuem Glanz erscheinen zu lassen. Bei der vorliegen Darstellung von Jürgen Wilke handelt es sich im Grunde um eine konventionelle Zeitungs- und Pressegeschichte, wie sie bereits in zahlreichen Darstellungen von Karl Bücher bis Kurz Koszyk vorliegt, die unter dem vermeintlich nachfragewirksameren Titel der »Medien- und Kommunikationsgeschichte« abgehandelt wird. Freilich wäre der Medienbegriff auch für die Pressegeschichte prinzipiell geeignet, diese Wissenschaft methodisch zu systematisieren und theoretisch neu zu positionieren. Hierzu müsste man sich aber mit diesem auseinandersetzen und dies geschieht bei Jürgen Wilke nicht. Man hat sich in der »Publizistikwissenschaft darauf geeinigt«, so heißt es in der Einleitung, »unter ,Medien` im engeren Sinne jene technischen Mittel zu verstehen, die zur Verbreitung von Aussagen an ein potenziell unbegrenztes Publikum geeignet sind« (S. 1). So basieren die vorgelegten »Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte« zwar auf einem konsensualen, aber dafür keineswegs für historische Darstellungen zweckmäßigen Medienbegriff, denn niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass es sich auch beim Telefon oder der Post um ein »Medium« handelt. Das Telefon wird sogar mittlerweile häufiger und massenhafter gebraucht als die Zeitung - trotzdem kommt es bei Wilke nicht vor, weil es »kein Instrument der Massenkommunikation« sei (S. 164).
Die Anfänge der Medien- und Kommunikationsgeschichte werden im Übergang von der oralen zur literalen Kommunikation knapp beschrieben, in der antiken Rhetorik und den ersten vormodernen Nachrichtensystemen. Während es sich hierbei um eine Vorgeschichte der Massenkommunikation gehandelt habe, so datiert Wilke deren Entstehung mit der Herausbildung von Buchdruck, Post und Flugblatt in der Frühen Neuzeit und der von der Publizistik so gerne thematisierten Dialektik von Presse und Zensur. Institutionalisiert wurde die dergestalt charakterisierte »Massenkommunikation« dann in einer nächsten Phase, dem 17. Jahrhundert, mit der Entstehung und Verbreitung der ersten Periodika. Nach kaum einem Fünftel des Buches sind die Leser schließlich bereits im 18. Jahrhundert angelangt, in dem die »Massenkommunikation« expandierte und sich diversifizierte. Spätestens hier weitet sich die Darstellung zu einer Beschreibung einzelner Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte aus, die zwar im Einzelnen interessant und zum Teil auch für die jeweilige Epoche bezeichnend, als fortlaufender Text aber schlicht unlesbar ist und daher eher enzyklopädischen Charakter annimmt, welcher durch die in Zeitungs- und Pressegeschichten üblichen Titelverzeichnisse am Schluss des Buches immerhin durchaus gut erschlossen ist. Die Ebene der Auseinandersetzung mit den »Grundzügen der Medien- und Kommunikationsgeschichte« verändert sich hierdurch indes entscheidend: Nicht mehr eine weitgehend technik- oder kulturhistorische Herangehensweise, sondern eine rein politikgeschichtliche Betrachtungsweise spielt sich in den Vordergrund, eine Geschichte der vorwiegend politischen Presse, die sich mehr oder minder erfolgreich gegen den Willen der politischen Akteure durchsetzt. Diese Erfolgsgeschichte der Massenkommunikation, die mit den Karlsbader Beschlüssen 1819 die wohl bekannteste frühe Niederlage erfuhr, worauf Wilke sofort eine »Retardierung der« - so könnte man ergänzen: gesamten - »Massenkommunikation« konstatiert, führte zwangsläufig zu ihrer vermeintlich fortschrittlichsten zivilisatorischen Stufe, in der gesellschaftliche Willens- und Meinungsbildung über die Medien hergestellt werden. Im Einklang mit der Publizistik datiert Wilke diese Stufe auf das ausgehende 19. Jahrhundert, als in Deutschland bei einem vergleichsweise liberalen Pressegesetz die meisten Periodika gedruckt wurden. »Zwar war dieser Prozess (der Durchsetzung der Massenkommunikation, J.H.) voller Hindernisse und durchlief Phasen der Retardierung. Letzten Endes war er jedoch nicht aufzuhalten« - so Wilkes pathetische Bilanz (S. 303). Die »Massenkommunikation« erscheint hier per se als plurales und demokratisches Instrument der Meinungsbildung, welches lange Zeit durch die Intervention der politischen Herrschaft in seiner guten, ja heilenden Wirkung beschnitten wurde, bevor es in der Nachkriegsgeschichte zur vollen Entfaltung gelangte, was von Wilke indes nur angedeutet wird, da er seine Ausführungen mit der Weimarer Republik schließt. Wenn die »Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte« aus einer solchen Wechselwirkung von demokratisierenden Medien und intervenierender Herrschaft bestehen - und der Eindruck wird in der Tat schon dadurch erweckt, dass die Abschnitte zur Pressezensur immer jeweils den Anfang der chronologischen Kapitel zur Pressegeschichte bilden -, so erscheint das zugrunde gelegte Gesellschaftsbild doch allzu simplifizierend. Spätestens seit dem von Jürgen Habermas beschriebenen Strukturwandel der Öffentlichkeit ist bei aller Korrektur seiner These im Detail doch unstrittig, dass die entsprechende Gesellschaftsstruktur eine unverzichtbare Voraussetzung für die Integration der Medien in den Prozess der bürgerlichen Öffentlichkeit gewesen ist. Hingegen reicht der Hinweis, dass es periodische Zeitschriften bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert gegeben habe und Habermas' These auf einer Unkenntnis der Pressegeschichte beruhe (S. 152), zur Kritik dieser These nicht aus, denn eine Zeitung macht noch lange keine bürgerliche Öffentlichkeit.
Kaum 60 Seiten widmet Wilke der »Plurimedialität der Massenkommunikation im frühen 20. Jahrhundert«, wie er den Prozess bezeichnet, in dessen Verlauf neue Medien, insbesondere Bildmedien die Vorherrschaft im System der Massenkommunikation erlangen. Vom Grammophon über den Film bis zum Rundfunk werden hier die Medien des 20. Jahrhunderts abgehandelt, während das Fernsehen, obgleich bekanntermaßen im 19. Jahrhundert im Prinzip erfunden, in den Ausblick verschoben wird. Die technikhistorische und institutionengeschichtliche Perspektive gewinnt nun wieder die Oberhand. Natürlich waren es auch bei der Erfindung von Film und Funk wie schon bei den Innovationen in der Drucktechnik des 19. Jahrhunderts vor allem deutsche Auswanderer, »deutschstämmige« oder Deutsche (S. 159, 325), deren Erfindungen die Entwicklung vorantrieben, eine gängige Melodie der älteren Technikgeschichte, die hier unkritisch übernommen wird. Dies zeigt, dass vor allem in diesem Schlusskapitel wenig an der Oberfläche gekratzt wurde, geschweige denn mit dem Begriff Medium als neuem Handwerkszeug einmal wirklich gegraben. Es ist eben die Pressegeschichte das Feld des Autors und nicht die »neuen Medien«, die ja auch schon über hundert Jahre alt sind. Daher überwiegt auch in diesem Kapitel wieder der Inhalt, das Programm, die politischen Interventionen, während die Frage, was diese »Plurimedialität« eigentlich systematisch ausmacht, nicht berührt wird. Radio, Kino, Zeitung, Schallplatte existierten doch keineswegs unabhängig voneinander, sondern bilden ein mediales System vielleicht auch einen »Medienverbund«, um ein weiteres Schlagwort zu verwenden.
Nur allzu schnell ist der derzeitige Buchmarkt bereit, unter Verwendung der neuen Begriffe Medium und Kommunikation Bücher auf den Markt zu bringen, die klassische Themen wie im vorliegenden Beispiel die Zeitungsgeschichte zwischen modisch motivierte Vorgeschichten und Ausblicke packen. Dass von diesem wissenschaftlichen Hot-dog schließlich nur die Wurst interessant bleibt, offenbart angesichts der notwendigen und üblichen Spezialisierung die Zwecklosigkeit, ein solches Projekt als den Alleingang eines Autors zu betreiben. Dies zeigen auch die Ergebnisse ähnlich gelagerter Buchprojekte. Wenn die Geschichtswissenschaft den Begriff des Mediums ernst nimmt, so ist Kooperation mit benachbarten Wissenschaften und zwischen unterschiedlichen Autoren eine unverzichtbare Grundlage zu seiner historiographischen Operationalisierung. Die Anwendung des Begriffs der »Schweigespirale« (Noelle-Neumann) für den Vergleich des Medieneinsatzes der katholischen Kirche und der Reformation im 16. Jahrhundert (S. 40) erscheint aus historiographischer Perspektive doch äußerst fragwürdig. Hier wird bei den Akteuren eine Motivationsstruktur vorausgesetzt, die erst im 19. Jahrhundert überhaupt möglich war und damit ein bestenfalls unglückliches Verständnis von Geschichtsbewusstsein vorgelebt, das Wilke im Schlusswort als unverzichtbare Grundlage des Verstehens proklamiert (S. 357). Solange eine intensive Diskussion über den Begriff des Mediums zwischen der Publizistik und der Geschichtswissenschaft nicht geführt wurde, solange wird es sich zwischen beiden Wissenschaften um jene Gleichzeitigkeit von legalem und illegalen Informationsstand handeln, die einer der amüsanteren von vielen orthographischen Fehlern bei Wilke nahe legt (S. 62): »Nicht überfall waren die gleichen Nachrichten verfügbar.«


Jan Otmar Hesse, Frankfurt am Main


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