ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Yfaat Weiss, Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität 1933-1940. Aus dem Hebräischen übersetzt von Matthias Schmidt (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 81), R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 252 S., kart., 40 DM.


Yfaat Weiss' von Shulamit Volkov betreute Dissertation verdient schon aufgrund ihres ungewöhnlichen Frageansatzes besondere Beachtung. Die Autorin beschränkt ihre Untersuchung nämlich nicht auf eine einzelne jüdische Population; sie vergleicht vielmehr für die 1930er Jahre mit den deutschen und den polnischen Juden zwei sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Begrifflich legt Yfaar Weiss diesem Vergleich zudem nicht die politisch umkämpften und analytisch fragwürdigen Termini einer ,,Assimilation" der deutschen und einer ,,authentischen Identität" der polnischen Juden zugrunde. Sie interpretiert die Differenzen zwischen diesen jüdischen Populationen nüchtern als Folge der unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Konstellationen in den beiden Ländern.
Das Selbstverständnis der deutschen Juden basierte, so die Autorin, seit der Reichsverfassung von 1871 auf dem Status des gleichberechtigten Staatsbürgers. Vor diesem Hintergrund verstanden die deutschen Juden ihr Judentum als Konfession analog zu den christlichen Bekenntnissen und nach der Jahrhundertwende zunehmend nur noch als Frage der historischen Herkunft. Im weit gehend zaristisch beherrschten Gebiet des später selbständigen Polen erlangten die Juden während des 19. Jahrhunderts hingegen weder die volle staatsbürgerliche Gleichheit noch grundlegende Änderungen ihrer sozioökonomischen Lage. Von einer sehr kleinen Schicht abgesehen, blieben sie in einem geschlossenen jüdischen Milieu.
Das unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg etablierte internationale Vertragswerk charakterisiert Yfaat Weiss als ,,Weggabelung" zwischen einer stärker nationalen Selbstdefinition der deutschen Juden und einem polnisch-jüdischen Selbstverständnis, das davon erheblich abwich. Die deutschen Juden, so Yfaat Weiss, wiesen dabei den Status einer Minderheit für sich entschieden zurück, da dies ihrem Selbstverständnis als gleichberechtigte Bürger widersprochen hätte, während die polnischen Juden im neu formierten polnischen Staat zur nationalen Minderheit wurden. Praktisch beschränkte sich dieser Status auf die Garantie einer jüdischen Erziehung und die Gewährleistung des Sabbat, konzeptionell beinhaltete er einen elementaren Widerspruch: Einerseits sollte das Minderheitenrecht ein Hindernis für staatliche Diskriminierung bilden und die Autonomie der Minorität als Voraussetzung für eine spätere vollständige Integration stärken, andererseits unterstrich die Anerkennung als Minderheit immer von neuem die Differenz zur Mehrheit und behinderte so die erstrebte gesellschaftliche Integration.
Letztlich - das ist Yfaat Weiss' vielleicht etwas zu staatsrechtlich geratene und zu wenig von den soziokulturellen Differenzen ausgehende Grundthese - sei es dieser Unterschied zwischen dem staatsbürgerlichen Selbstverständnis der deutschen Juden und einer über internationale Verträge abgesicherten Staatsangehörigkeit der polnischen Juden gewesen, die das Beziehungsgeflecht zwischen den beiden jüdischen Bevölkerungen in den 1930er Jahren bestimmt habe. Dieses Geflecht untersucht die Autorin dann sowohl für das Verhältnis zwischen den deutschen Juden und der in Deutschland lebenden polnisch-jüdischen Minderheit als auch für die Beziehung zwischen deutschen und polnischen Juden insgesamt. Diese spezifische Perspektive bringt es fast unvermeidlich mit sich, dass manche in Einzeluntersuchungen zum deutschen und zum polnischen Judentum herausgearbeitete Differenzierung innerhalb dieser beiden jüdischen Gruppen keine Berücksichtigung findet.
Im Einzelnen geht es in Yfaat Weiss' Buch zunächst um die Randgruppen-Situation der polnischen Juden im nationalsozialistischen Deutschland und um die Diskrepanz im religiösen Selbstverständnis deutscher und polnischer Juden vor allem am Beispiel der gegenseitigen Rezeption des Verbots des koscheren Schlachtens im Deutschen Reich und in Polen. Im Zentrum des dritten Kapitels steht der Konkurrenzkampf zwischen deutschen und polnischen Juden um die limitierte finanzielle Unterstützung durch internationale jüdische Organisationen. Im vierten Abschnitt diskutiert die Autorin die wechselseitige jüdische Wahrnehmung der antisemitischen Politik in Deutschland und Polen während der 1930er Jahre. Im Kapitel ,,Emigration ohne Immigration" zeigt sie dann, dass die erzwungene Auswanderung deutscher Juden zu erheblichen Einschränkungen der Emigrationsmöglichkeiten polnischer Juden führte. Daraufhin erörtert sie den Konflikt zwischen dem von der Jewish Agency und dem Deutschen Reich abgeschlossenen Transferabkommen, das der Überführung von Vermögenswerten deutscher Juden nach Palästina dienen sollte, und den wirtschaftlichen Boykott-Aktivitäten gegen das nationalsozialistische Deutschland, an denen sich polnische Juden besonders intensiv beteiligten. Das siebte Kapitel befasst sich schließlich mit der Ausweisung polnischer Juden aus Deutschland nach Polen im Herbst 1938, und es folgt dem Schicksal der im Reich zurückbleibenden polnischen Juden unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges.
Vor allem in diesem Teil des Buches verbirgt die Autorin ihre Bitterkeit nicht. Als nämlich die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Anfang 1940 das Schicksal polnisch-jüdischer Häftlinge im KZ Sachsenhausen erörterte, schlug Otto Hirsch, der administrative Leiter der Reichsvereinigung, eine ,,Repatriierung" dieser Juden in das deutsch besetzte Generalgouvernement vor. Als kurz darauf jedoch 1200 Juden aus Stettin in den Distrikt Lublin des Generalgouvernements deportiert wurden, suchte die Reichsvereinigung angesichts der dortigen miserablen Lebensbedingungen deren Rückkehr zu erwirken, da es sich doch um deutsche Staatsangehörige handele. Die Führung des deutschen Judentums betrachtete die osteuropäischen Juden mithin nach herkömmlichem Muster als Fremde, die in ihr Ausgangsland zurückzuführen seien.
In ihrem konzisen Epilog ,,Zwischen ethnischer und nationaler Identität" zeigt die Autorin zunächst, dass den deutschen Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft angesichts ihrer Machtlosigkeit nur übrig blieb, sich mit dem für sie ungewohnten Status einer separaten und isolierten Gruppe abzufinden. Nicht zuletzt infolge ihrer vergleichsweise großen kulturellen und sozioökonomischen Homogenität konnten sie die vorhandenen geringen Möglichkeiten zur sozialen Absicherung und Emigrationsvorbereitung in den 1930er Jahren jedoch effektiv nutzen. Innerhalb des polnischen Judentums nahm die innere Aufsplitterung mit dem zeitgleichen Anwachsen des Antisemitismus in Polen hingegen noch einmal erheblich zu. Zum heftiger werdenden politischen Kampf zwischen Zionisten, Orthodoxen und Sozialisten kam dort die mangelnde Erfahrung im ohnehin schwach ausgeprägten organisatorischen Bereich. Die internationalen nichtzionistischen wie zionistischen jüdischen Organisationen hatten die Hoffnung auf die administrativen Fähigkeiten der polnischer Juden ohnedies schon verloren. In den 1930er Jahren nahmen sie zudem die Not der deutschen Juden als akut wahr, während ihnen das Leid der polnischen Juden als chronisch und durch auswärtige Hilfe kaum mehr linderbar galt. Letztlich führten die relative Wohlhabenheit, die höhere berufliche Qualifikation und die finanzielle Begünstigung der deutsch-jüdischen Emigration dazu, dass die deutschen Juden nicht nur bei der Auswanderung nach Westen, sondern auch bei der Emigration nach Palästina bessere Chancen als polnische Juden hatten.
Die deutsch-jüdischen Organisationen, so das von einem - angesichts der damaligen dramatischen Konstellation - vielleicht etwas abgehobenen Ideal gesamtjüdischer Solidarität getragene Fazit der Autorin, hatten die indirekten Folgen kaum im Blick, die ihre vergleichsweise pragmatische und effektive Emigrationspolitik für die ,,Judenfrage" in den Ländern Osteuropas mit sich brachte. Das entsprach dem aus der Geschichte der deutschen Judenemanzipation erklärbaren Denkmuster vom deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens, das einem nationenübergreifenden kollektiv-jüdischen Handeln weniger Bedeutung zumaß als dem unter polnischen Juden verbreitete Verständnis von einem ,,jüdischen Volk". Unter den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Juden entwickelte sich ein stärker gesamtjüdisches Selbstverständnis nicht von ungefähr erst nach der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, welche die Juden ungeachtet ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Integration und ihres Selbstverständnisses getroffen hatte.


Yvonne Rieker , Essen


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juli 2001