ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Francesca Weil, Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära, Böhlau Verlag, Köln etc. 2000, 248 S., brosch., 58 DM.


Darüber, ob der Titel des Bandes glücklich gewählt ist, mag man geteilter Auffassung sein. Der Begriff des Herrschaftsanspruchs zielt auf die Frage nach seiner Durchsetzung. Jener der sozialen Wirklichkeit hingegen weckt Erwartungen in Richtung auf eine Geschichte des täglichen Lebens. Francesca Weil jedoch geht es nicht nur um die Durchsetzung des politischen Herrschaftsanspruchs der SED in zwei exemplarisch ausgewählten Leipziger Betrieben, sondern auch um den Umgang der dort Beschäftigten mit diesem Herrschaftsanspruch und vor allem um das Problem, unter welchen Umständen und in welchem Ausmaß sich die betriebliche Realität politischen Intentionen verschloss. Dabei gelingen ihr interessante Einblicke in Details des Betriebsalltags. Das Buch bietet also keine Betriebs- bzw. Unternehmensgeschichte im eigentlichen Sinne, sondern es problematisiert die Entwicklung beider Betriebe unter dem speziellen Blickwinkel der Herrschaftspraxis, ihrer Möglichkeiten und Grenzen in der ,,Ära Honecker".
In einer ausführlichen Einleitung präsentiert die Autorin ihr Forschungsanliegen, umreißt den Forschungsstand und begründet die Auswahl der beiden im Untersuchungszeitraum der siebziger und achtziger Jahre ,,volkseigenen" Betriebe. Es handelt sich um den VEB Goldring Markkleeberg, einen auf Schreibgeräte spezialisierten Kunststoffverarbeiter, und um den VEB Leipziger Arzneimittelwerk. So legitim diese Auswahl ist und so sehr das Argument der Vergleichbarkeit überzeugt, bleibt damit freilich ein methodisches Problem verbunden: Beide Betriebe galten nicht als Schwerpunktbetriebe, doch verfügten sie mit einigen Produkten fast über eine Monopolstellung, die ihre wirtschaftliche Bedeutung durchaus unterstrich. Der Bereich großer Kombinatsbetriebe, aber auch der umfangreiche Sektor von Kleinbetrieben wird also durch Weils Untersuchung nicht erfasst. Zudem hat man es mit so genannten ,,Frauenbetrieben" zu tun, deren Belegschaften Frauenanteile von über 70 Prozent aufwiesen. Daraus resultierten nicht zuletzt besondere Anforderungen an die betriebliche Sozialpolitik. Diese Einschränkungen machen deutlich, dass die vorgestellten Ergebnisse nicht als pars pro toto zu interpretieren sind. Gleichwohl sind sie symptomatisch für einen beträchtlichen Teil der DDR-Industrie. Schließlich geht die Verfasserin auf die von ihr angewandten Untersuchungsmethoden ein, wobei sie besonderes bemüht ist, den Aussagewert von Interviews zu begründen. 32 davon standen ihr zur Verfügung. Auch hatte sie unter den Beschäftigten standardisierte Fragebogen verteilt. Davon waren 48 mit den Antworten auf 123 Fragen auswertbar. Schließlich, und das ist der wohl entscheidende Punkt, konnte sie auf die weit gehend vollständigen Betriebsarchive zurückgreifen. Zu Recht betont Francesca Weil, dass man es hier mit einem glücklichen Umstand zu tun hat, denn in vielen Fällen gibt es aus DDR-Betrieben bis auf erhalten gebliebene Lohnunterlagen keine schriftliche Überlieferung mehr.
Im ersten von insgesamt sechs Kapiteln fragt die Autorin, wie politischer Einfluss auf den Betrieb und im Betrieb stattfand und wo er auf seine Grenzen traf. Es geht hier um die bekannten Melde- und Informationssysteme auf den Ebenen der SED, des FDGB und der ,,wirtschaftsleitenden" Organe. Auch das Auftreten der Staatssicherheit bei ,,besonderen Vorkommnissen" im Betrieb wird thematisiert. Angesichts des Spektrums externer Interventionsmöglichkeiten ist es verständlich, wenn man auch im Fall dieser beiden Betriebe bestrebt war, Konflikte zwischen Belegschaftsmitgliedern und dem Leitungspersonal oder auch zwischen Belegschaftsmitgliedern möglichst intern zu regeln. Hierin ist ein Verhaltensmuster zu finden, wie es auch unter dem Nationalsozialismus anzutreffen war. Sehr deutlich wird angesichts der engen Handlungsgrenzen, wie sehr sich DDR-Betriebe von selbständig auf Märkten operierenden Unternehmen unterschieden. Von besonderem Interesse ist ein Befund, der konkretere Vorstellungen von den Handlungsspielräumen der Betriebsleitungen und von politischen Interventionsanlässen ermöglicht. Im VEB Goldring stand ein als Fachmann geachteter Manager mit gutem Gespür für die Belange der Beschäftigten als Betriebsdirektor an der Spitze. Ihm gelang es, einen stabilen Produktionsablauf und damit die Planerfüllung zu sichern, sodass externe Gremien keinen Anlass zum Eingreifen sahen. Anders war die Lage im Arzneimittelwerk, wo Planrückstände umgehend einen Aufmarsch der zuständigen Parteiorgane veranlassten. Weil meint mit gutem Grund, einen Zusammenhang ,,zwischen Planerfüllung und Autonomie" (S. 33) konstatieren zu können. Das folgende Kapitel vertieft diese Überlegungen, indem es ausführlicher auf Methoden eingeht, mit denen Leistungsanreize zur Erfüllung des Produktionsplanes angewandt wurden. Vor allem ein kreativer und nicht immer ganz legaler Umgang mit Prämienmitteln spielt hierbei eine Rolle. Es war ein Feld der innerbetrieblichen Arrangements.
Der Rolle von Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) ist das dritte Kapitel gewidmet. Hier beleuchtet die Verfasserin unter anderem deren eher frustrierende Funktion bei der Organisation des ,,sozialistischen Wettbewerbs" und die im Gegensatz dazu recht erfolgreichen Aktivitäten auf dem Feld der betrieblichen Sozialpolitik. Letztere unterlag im betrachteten Zeitraum einer gewissen Tendenz zur Routine, sodass es nicht verwundert, wenn die ehrenamtliche BGL im VEB Goldpunkt keinen übermäßigen Aufwand betreiben musste, um die betrieblichen Sozialmaßnahmen zu gewährleisten. Anders sah es in dem von Produktionsschwierigkeiten gebeutelten Arzneimittelwerk aus, wo offenbar der Kultur- und Sozialfonds immer wieder Sorgen bereitete. Insgesamt jedoch verweist Francesca Weil auf eine Verschiebung des Schwerpunkts der FDGB-Aktivitäten von Erziehungs- und Mobilisierungsanstrengungen hin zu sozialpolitischen Aufgaben. Sie spricht in dem Zusammenhang von Entpolitisierungstendenzen. Dem äußeren Anschein nach traf das gewiss zu, nur sollte dabei nicht übersehen werden, dass gerade die Sozialpolitik nach dem VIII. SED-Parteitag 1971 zu einem wichtigen Instrument der Herrschaftslegitimation gemacht worden war und damit per se zu einem exponierten Politikum geriet. Kurz geht die Autorin in dem Zusammenhang auf die Aufgaben der betrieblichen Ferien- und Konfliktkommissionen ein. Sie skizziert die sozial integrative und disziplinierende Funktion von Arbeitskollektiven und Brigaden, schließlich wirft sie einen Blick auf die Praxis des sozialistischen Wettbewerbs.
Ein weiteres Kapitel ,,Frauenalltag im Betrieb" behandelt das Thema unter dem Aspekt der staatlichen und der betrieblichen ,,Frauenpolitik", wobei es insbesondere die ambivalenten Zusammenhänge und Wirkungen der Teilzeitarbeit problematisiert. Vorgestellt werden die auf Frauenbeschäftigung abgestimmten Elemente der betrieblichen Sozialpolitik, deren Nutzung, aber auch deren extensive Ausnutzung, die nicht selten Züge des Missbrauchs annahm. Im Allgemeinen seien Überlegungen und Handlungsweisen der in beiden Betrieben beschäftigten Frauen aber von pragmatischen Gesichtspunkten bestimmt gewesen. Im folgenden kurzen Kapitel vergleicht Weil die sozialen Beziehungen und das Betriebsklima im VEB Goldpunkt und im VEB Arzneimittelwerk. Beachtenswert erscheint der Befund, dass man sich außerhalb der Arbeitszeit seit den siebziger Jahren mehr und mehr ins Private zurückzuziehen begann. Allerdings war das Betriebsklima in dem kleineren und erfolgreicheren VEB Goldpunkt wohl deutlich günstiger. Arbeiter und Angestellte hatten hier eine viel engere Betriebsbindung als im Arzneimittelwerk.
Der Entwicklung vom Herbst 1989 bis zur Vereinigung Deutschlands ist das sechste Kapitel gewidmet. Turbulenten Szenen in der Parteileitung des VEB Goldpunkt Ende 1989 folgte 1990/1991 eine kurze Existenz als Treuhandbetrieb, und schließlich kam es im Dezember 1991 zur Liquidation der Firma. Das Arzneimittelwerk, ebenfalls zunächst ein Treuhandbetrieb, wurde 1992 zu einem Teil an einen Investor verkauft, andere Betriebsteile fielen dem Abriss anheim. Die ehemaligen Belegschaften gingen gezwungenermaßen auseinander, doch blieben soziale Kontakte teilweise noch über Jahre bestehen, nicht ohne eine etwas wehmütige Erinnerung an die Zeit im DDR-Betrieb.
Der Band enthält ein Literatur- und Quellenverzeichnis. Im Anhang sind 14 informative Quellentexte abgedruckt. Kritisch zu vermerken bleiben einige Ungereimtheiten in den Anmerkungen, bei denen nicht immer klar ist, warum, wie in Anmerkung 1, nur der Verfassername und die Seitenzahl auftaucht, während an anderer Stelle komplette Angaben erfolgen. Das Literaturverzeichnis hilft aber darüber hinweg. An manchen Formulierungen glaubt man eine gewisse Hast bei der Fertigstellung des Manuskripts bemerken zu können. Doch sollen diese kleinen Einwände den positiven Gesamteindruck nicht in Frage stellen. Das Buch vertieft und präzisiert die Kenntnisse über den Alltag in einem von der Forschung bislang weniger beachteten Teil der DDR-Industrie.


Peter Hübner, Potsdam


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