Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Rex A. Wade, The Russian Revolution, 1917 (= New approaches to European history), Cambridge University Press, Cambridge 2000, XVII, 337 S., kart., 12,95 £.
Kaum ein singuläres Ereignis hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts so nachhaltig geprägt wie die Russische Revolution 1917. Mit dem Ende der UdSSR 1991 hat zwar auch ihr Gründungsmythos beträchtlich an Brisanz verloren; den z.T. leidenschaftlich geführten Diskussionen, wie noch die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen Revisionisten und Totalitaristen illustrieren, hat dies jedoch keinen Abbruch getan. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unverständlich, der nahezu unüberschaubaren Literaturfülle zur Geschichte der Russischen Revolution eine weitere Synthese hinzuzufügen, wie unlängst durch Rex Wade geschehen. Wade, Professor für Geschichte an der George Mason University in Fairfax, Virginia, sorgte bereits 1984 mit der Monographie ,,Red Guards and Workers' Militias in the Russian Revolution" für Furore.
Wade gliedert seine Darstellung, die den Untersuchungszeitraum von der Februarrevolution 1917 bis zur Auflösung der Konstituierenden Versammlung Anfang Januar 1918 umfasst und insofern gewisse Ähnlichkeiten mit Helmut Altrichters Monographie ,,Russland 1917: Ein Land auf der Suche nach sich selbst" aufweist, in elf Kapitel. Die Kapitel 4 bis 6 über die russische Gesellschaft, die Bauern und die Nationalitäten folgen einem systematischen, die übrigen einem chronologischen Prinzip.
Konzeptionell ist Wades Darstellung einem sozialgeschichtlichen Ansatz verpflichtet, in dem die politische Dimension dominiert, die Wirtschaftsgeschichte nur gestreift und der kulturelle Sektor sehr klein geschrieben wird. Lemmata wie Symbole, Kultur, Repräsentationen sucht man im Register vergeblich. Im Text finden sie z. T. Erwähnung, doch bleibt unklar, welche Sinn stiftende Bedeutung beispielsweise Symbole besaßen (S. 91f.). Auch scheint mir der Begriff der Arbeiterklasse etwas zu vage zu sein. Zum einen konzentriert sich Wades Darstellung überwiegend auf Fabrikarbeiter, sodass Handwerker einmal mehr nur ungenügend berücksichtigt werden. Wade dehnt aber zum zweiten den Begriff auf Handwerker - unklar bleibt, ob er auch selbständige inkludiert - und Angestellte aus. Zum dritten wäre zu fragen, was Ursache der von ihm konstatierten subjektiven Befindlichkeiten 1917 war, sich als Teil der Arbeiterklasse zu betrachten. Immerhin könnte man vor dem Hintergrund der Ausführungen von Boris Kolonickij (,,Antibourgeois Propaganda and Anti-,Burzhui' Consciousness in 1917, in: Russian Review 53, 1994, S. 183-196) fragen, inwieweit solche Repräsentationen taktisch motiviert waren. Hierzu schweigt sich Wade jedoch aus. Nichtsdestoweniger hebt sich seine Darstellung in mehrfacher Hinsicht wohltuend von früheren Synthesen ab:
Erstens verwendet Wade eine klare Sprache. Seine Darstellung zeichnet sich nicht nur durch literarischen Anspruch (z. B. Kapitel 7), sondern - und dies ist viel entscheidender - auch durch eine zumeist präzise Begrifflichkeit aus. Konzepte und Kategorien, die sich für die russischen Verhältnisse als sperrig erweisen, wie z.B. ,,middle classes", werden differenziert und kontextgebunden verwendet. Zu begrüßen sind auch seine Ausführungen zu dem in der angloamerikanischen Russlandforschung sehr populären Konzept der ,,Identitäten". Sie klingen zwar recht banal (,,Nor should we forget the multiplicity of identities a single person might have", S. 88), lassen aber eine Zurückhaltung hinsichtlich dieser Kategorie deutlich werden, die letztlich nur aufgrund einer empirisch fundierten Feldforschung erfolgreich operationalisiert werden kann.
Zweitens konzentriert sich Wade nicht allein auf die Bol'_eviki als radikale Protagonisten der sozialistischen Revolution, sondern macht die Existenz eines aus verschiedenen Parteien und Gruppierungen wie den Mežrajoncy, den Men'ševiki-Internationalisten, den linken Sozialrevolutionären, den SR-Maximalisten und den verschiedenen anarchistischen Formationen bestehenden ,,Links-Blocks" deutlich. Der Oktober war somit keineswegs der Coup d'état einer Partei, sondern hatte eine viel breitere politische und gesellschaftliche Basis.
Drittens überzeugt Wades ebenso einfühlsame wie nuancierte Argumentation zur Konstituierenden Versammlung. Dabei macht er auf einen sehr wichtigen Aspekt der politischen Taktik aufmerksam, nämlich den Zeitfaktor. Von der Durchführung der Wahlen im November bis zur Eröffnungssitzung vergingen fast zwei Monate. Eine Zeitspanne, die das Kabinett Lenin zur Konsolidierung des Sowjetregimes glänzend nutzen konnte (S. 278 f.). Während die Sowjetregierung agieren und die Politikfelder entsprechend der Erwartungshorizonte der Bevölkerung - man denke nur an die Dekrete über Frieden bzw. Grund und Boden - abstecken konnte, war die Konstituante zur Untätigkeit verurteilt. Ihr verblieb im Januar nur die Option, entweder die normative Kraft des Faktischen zu akzeptieren oder sich gegen die Aspirationen der Bevölkerungsmehrheit zu stellen. Nicht die Auflösung der Konstituante entfremdete insbesondere die Partei Lenins der Bevölkerung, denn ihre Popularität sank verstärkt seit März 1918 vor allem infolge der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation, der Einschränkung der Grund- und Menschenrechte und der Verweigerung oder Manipulation der periodischen Sowjetwahlen. Damit lehnten die Bol'_eviki selbst eine plebiszitäre Legitimation ihrer Herrschaft ab und ließen ihren politischen Kontrahenten gar keine andere Wahl als die Kritik der Waffen. So gesehen waren die Bol'_eviki zu einem gut Teil verantwortlich für die Entfesselung des Bürgerkrieges.
Zu bedauern ist die Konzentration vor allem auf die anglophone Forschungsliteratur. Die deutschsprachige wird einmal mehr nicht rezipiert. Mehr noch: Sie findet noch nicht einmal Eingang in das Literaturverzeichnis, und das, obwohl zahlreiche Spezialmonographien Aspekte der Revolutionsgeschichte thematisieren, für die keine englischsprachigen Untersuchungen vorliegen. Dies ist aus hiesiger Sicht zu beklagen, gilt aber in den USA offenbar nicht als Manko und sagt viel über das transatlantische Wissenschaftsverständnis aus.
Eine kurze Chronologie, 23 weit gehend unbekannte Abbildungen und vier Karten ergänzen die Darstellung. Insgesamt kann Wades Monographie jedem ans Herz gelegt werden, der sich einen konzisen Überblick über das Revolutionsjahr 1917 verschaffen möchte. Überzeugend in der faktischen Darstellung und flüssig geschrieben, gelingt es dem Autor dieser Synthese immer wieder, eigene Akzente zu setzen, die in der Forschung umstritten sind und keineswegs immer der Mehrheitsmeinung entsprechen: Insofern vermittelt die Lektüre nicht nur neue Einblicke, sondern gibt auch Denkanstöße, z.T. seit Jahrzehnten für unumstößlich erachtete Forschungspositionen zu hinterfragen und sie nicht a priori zu akzeptieren.
Lutz Häfner, Bielefeld