Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Frank Trentmann (Hrsg.): Paradoxes of Civil Society. New Perspectives on Modern German and British History, Berghahn Books, New York, Oxford 2000, 368 S., kart., 47 £.
Die civil society ist ein Dauerbrenner der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Diskussion. Während seit 1989 einerseits vom Ende der Ideologien gesprochen wird, hat sich andererseits die "Bürgergesellschaft" oder auch "Zivilgesellschaft" als Zauberwort des "dritten Weges" etabliert. Es sind die Übersetzungsschwierigkeiten zwischen der englischen und der deutschen Diskussion, auf die Frank Trentmann in seiner Einleitung zum vorliegenden Band zu allererst hinweist. Was im englischsprachigen Raum in Verbindung mit normativen Kategorien der Zivilität und des "citizen" unter civil society verstanden wird, trifft im deutschsprachigen Raum auf die inzwischen klassischen Positionen Habermas' und Kosellecks, deren Betonung der Öffentlichkeit und argumentativen Konfliktregelung allerdings keineswegs selbstverständliche Komponenten des historischen Verständnisses der civil society sein müssen. Trentmanns Aufsatzsammlung stellt sich vielmehr Fragen nach dem historisch konkreten Verhältnis von civil society einerseits und Öffentlichkeit, Staat, Religion und Geschlechterverhältnissen andererseits. Als paradox erscheinen dabei immer wieder die ambivalenten Effekte bürgerlicher Selbstorganisation, die sehr wohl mit einer gewissen Staatsnähe oder Intoleranz einhergehen konnte. Die empirische Ausrichtung ist zu begrüßen, nicht zuletzt weil nach der Lektüre dieses Bandes wiederum deutlich wird, dass abstrakte soziologische Konzepte mit konkreten historischen Daten konfrontiert werden müssen.
Die Beiträge widmen sich einer breiten Palette von konkreten Themenfeldern, wobei die deutsche Geschichte deutlich dominiert. Als konzeptioneller Unterbau fungieren zunächst die Beiträge zu Geschlechterkonzeptionen der schottischen Aufklärung (Mary Catherine Moran), die Funktion der Ökonomie bei Hegel (Rupert H. Gordon) sowie Kants Stellungnahmen zu bürgerlicher Gesellschaft und Öffentlichkeit (Elisabeth Ellis). Dabei geht es durchgängig um eine Differenzierung gängiger Vorstellungen, etwa wenn auf die zwar private, aber deshalb durchaus nicht unpolitische Rolle der Frau als Garant der Zivilität in der `conjectural history' hingewiesen wird oder Kants essayistische Positionen zum Problem der Öffentlichkeit analysiert werden. Die problematische Verbindung zwischen nuomenaler und phänomenaler Sphäre lässt in Kants Philosophie durchaus Raum für Konzepte bürgerlicher Rollen (als Amts- oder "Privat"-Personen) oder der Öffentlichkeit als Korrektiv (wenn auch nicht als Souverän) staatlichen Handelns. In ähnlicher Absicht stellt sich die Lektüre von Hegels bürgerlicher Gesellschaft dar, in der die Ökonomie als nicht nur "bloß-notwendiger", sondern auch historischer Ort des "Kampfes um wechselseitige Anerkennung" (A. Honneth) und also der Zivilität aufgefasst werden kann. Allerdings stellt sich weiterhin die Frage, inwiefern hier vor dem Hintergrund marktwirtschaftlicher Praxis nicht der Wunsch der Vater des Gedankens ist.
Die folgenden Beiträge widmen sich einerseits recht konventionellen Themen der Öffentlichkeitsproblematik und versuchen andererseits sozialgeschichtliche Themen in das Leitthema der civil society einzuordnen. Der Tenor bleibt dabei wohltuend `paradox': Seien es die lokalen Intelligenzblätter (Ian F. McNeely), die Leipziger Freimaurer (Robert Beachy) oder die ländliche Provinzpresse Alt-Bayerns (John Abbott) - überall erscheinen die Dinge nicht so, wie man sie erwartet, sondern die gedruckte Öffentlichkeit interagierte durchaus bemerkenswert mit staatlichen Institutionen, die Provinz erscheint als zugleich partizipatives und undemokratisches Milieu, und die Freimaurer werden als weniger ideologisch als vielmehr lebensweltlich definierte Organisation begriffen, die durch die Disziplin der `Respektabilität' und die Moralisierung der ökonomischen Solidität als eine Handelskammer der Soziabilität beschrieben werden kann. Weniger atemberaubend ist es allerdings, wenn wir am Beispiel der Turner und Sänger (Daniel A. McMillan) erfahren, dass lebhafte Soziabilität mit einem spezifisch deutschen Demokratiedefizit einhergehen konnte, das gleich auch die politische Kultur bis 1933 erklären helfen soll. Hier erfährt der deutsche `Sonderweg' eine verspätete Wiederbelebung. Die selbstorganisierten Verfechter des Kulturkampfs zu analysieren, der in diesem Zusammenhang eine eben nicht nur staatliche Diskriminierungspolitik darstellt, ist demgegenüber ein wertvoller Beitrag zur differenzierten Einschätzung der civil society und ihrer repressiven Potenziale (Roisin Healy). Über einige sachliche Schnitzer muss der Leser dabei allerdings hinwegsehen können, wenn z.B. relativ einleuchtende Begriffe wie "groß-" und "kleindeutsch" verwechselt werden oder Heinrich v. Treitschke in "Hermann" umgetauft wird. Am interessantesten erscheinen die Beiträge zur Geschlechtergeschichte, die die emanzipatorischen Potenziale der britischen Kolonialmission untersuchen (Steven S. Maughan) oder auf die durchaus positiven Auswirkungen staatlicher Sozialpolitik auf die Selbstorganisation der deutschen Prostituierten in der Weimarer Republik hinweisen (Julia Roos). Hier gelingt eine überzeugende Integration der Geschlechtergeschichte in die laufenden Diskussionen der so genannten "allgemeinen" Historiographie - und umgekehrt.
Der letzte Teil dieser Sammlung widmet sich schließlich dem Spannungsfeld von civil society und Ökonomie. Madeleine Hurd weist am Beispiel Hamburgs zu Recht auf die Zunft-Blindheit des deutschen Liberalismus hin, durch die wichtige Organisationspotenziale für die innerstädtische Demokratisierung verspielt worden sind. Demgegenüber kann Frank Trentmann eine Neuinterpretation der englischen Freihandelsideologie präsentieren, die in überzeugender Weise die Verbindung von free-trade-Bekenntnis und immanenter Kapitalismuskritik herausarbeitet. Dies ist ein wichtiger Beitrag zum 'Sonderweg' der englischen civil society. Es wäre zu wünschen gewesen, wenn in diesem Zusammenhang der englische Sozialismus (Mark Bevir) ähnlich innovativ behandelt worden wäre. Deborah Cohens Vergleich der deutschen und englischen Veteranenfürsorge nach 1918 ist schließlich eine wichtige Analyse der diametral entgegengesetzten Konzepte von deutscher Staatsfürsorge einerseits und englischer privater Wohltätigkeit andererseits. Die politische System-"Loyalität" der Veteranen aus Art und Umfang ihrer Sozialfürsorge abzuleiten und so eine Bewertung der jeweiligen Fürsorge-Organisation vorzunehmen, steht jedoch in der Gefahr, die tief gehenden, grundsätzlichen Grabenkämpfe in der Weimarer politischen Kultur zu übersehen, an denen eben auch die Veteranen teilnahmen. In der vorliegenden Form steht jedenfalls eine Apotheose des englischen Charity- und Almosenwesens auf vorerst unsicherem Grund.
Insgesamt leistet Trentmanns Aufsatzsammlung einen konstruktiven Beitrag zur historischen Demontage eines abstrakt-utopischen Begriffs von civil society und erweist sich dort am anregendsten, wo einerseits die repressiven Potenziale bürgerlicher Selbstorganisation oder andererseits die Interaktion von staatlicher Sozialordnungspolitik und gesellschaftlicher Eigeninitiative in den Blick kommen. Anstatt das aktuelle Vokabular des Sozialabbaus unbesehen in eine staatsferne Konzeption einer freischwebenden "Bürgergesellschaft" zu übernehmen, sind Historikerinnen und Historiker gut beraten, die historisch-empirische Komplexität und "Paradoxie" moderner Gesellschaftskonzepte im Auge zu behalten. Eben hierfür stellt der vorliegende Band wertvolles, lehrreiches und zuweilen spannendes Anschauungsmaterial bereit. Was noch zu tun bliebe, wäre eine kulturtheoretisch fundierte Analyse der "Zivilität", wie sie John A. Hall in seinem Beitrag anvisiert. Doch das Feld wird noch für weitere Sammelbände gut sein.
Aribert Reimann, Köln