ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Holm Sundhausen/Hans-Joachim Torke (Hrsg.), 1917-1918 als Epochengrenze? (= Multidisziplinäre Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin, Bd. 8), Harassowitz Verlag, Wiesbaden 2000, 287 S., brosch., 98 DM.


Folgte auf das ,,lange 19." das ,,kurze 20. Jahrhundert"? Und wenn ja, wo liegen die Zäsuren? Diese beiden Fragen standen im Mittelpunkt einer Ringvorlesung an der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1997/98. Zwölf Beiträge haben Aufnahme in den vorliegenden Band gefunden, der von einem Beitrag Bernd Sösemanns unter dem Titel ,,Der Anlass: Der Erste Weltkrieg" eingeleitet wird. Angesichts der Tatsache, dass das Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin diese Vortragsreihe organisiert hatte, überrascht der Osteuropaschwerpunkt nicht: Vier Beiträge, die exemplarisch im Folgenden eingehender betrachtet werden sollen, behandeln Russland. Von den übrigen beschäftigen sich zwei mit Deutschland (Dieter Hertz-Eichenrode, ,,Sozialpolitische Folgen von Krieg und Revolution", Henning Köhler, ,,Die Oktoberrevolution und Deutschland"); je einer ist den Ereignissen in Polen (Klaus Zernack, ,,Polen und Oktoberrevolution), Österreich-Ungarn (Holm Sundhaussen, ,,Von der Multiethnizität zum Nationalstaat. Der Zerfall ,Kakaniens' und die staatliche Neuordnung im Donauraum am Ende des Ersten Weltkrieges"), der Bukowina (Mariana Hausleitner, ,,Die Epochengrenze in der Bukowina als Fallbeispiel einer multiethnischen Region) und dem Kriegseintritt der USA (Knud Krakau) gewidmet. Während diese Beiträge entweder diplomatie-, ereignisgeschichtliche oder historiographische Themen darstellen, erörtert Harold Hammer-Schenk unter dem Titel ,,1918 - Eine Wende in der Kunst" die kunstgeschichtliche Dimension und vertritt dezidiert die Auffassung, dass die Jahre 1917/18 in der Kunst keine epochale Zäsur dargestellt hätten. Diese sei vielmehr in den Jahren unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges zu finden. Damit fällt dieser Artikel auch resultativ aus dem Rahmen; denn die übrigen Autoren bejahen alle die Zäsur von Revolution, Kriegsende, Zerfall der Vielvölkerstaaten, der Nationalstaatsbildung, der Demokratisierung etc.
Die Beiträge sind insgesamt sehr konventionell. Mit neuen Erkenntnissen warten sie kaum auf. Nichtsdestoweniger stellen die Verfasser bedenkenswerte Überlegungen an. Der 1999 verstorbene Hans-Joachim Torke (,,Die improvisierte Demokratie: Februar-Revolution und Provisorische Regierung in Russland") unternahm den Versuch, das Negativimage der Provisorischen Regierung aufzupolieren. Angesichts der Erblasten waren ihre Repräsentanten erfolgreich, als sie versuchten, anstelle des willkürlichen und autoritären Herrschaftsstils der Autokratie ein demokratisches, durch das ,,vierschwänzige" Wahlrecht legitimiertes, rechtsstaatliches System zu etablieren. Der Dauerwahlkampf des Jahres 1917 zeigte, dass die Bevölkerung umfänglich von ihren neuen Partizipationsmöglichkeiten Gebrauch machte. Politisches Ungeschick der ,,dramatis personae" ebenso wie die multiplen Strukturkrisen setzten dieser parlamentarischen Demokratie allerdings ein baldiges Ende.
Auch Manfred Hildermeier sieht diese Gründe als entscheidende Voraussetzungen des ,,Roten Oktobers" an. Er betont aber, dass der Oktoberumsturz letztlich die bereits von Leopold Haimson konstatierte doppelte Polarisierung, nämlich einerseits von Staat und Gesellschaft und anderseits von ,,Zensusgesellschaft" und Unterschichten entschieden habe. Weniger plausibel als diese These erweist sich indes seine ereignisgeschichtliche Darstellung, bei der er m. E. zu sehr auf die Bedeutung der Bol'_eviki für den Erfolg des Oktoberumsturzes abhebt. Dadurch tritt der Umstand in den Hintergrund, dass der Oktober letztlich nicht nur in den beiden Hauptstädten, sondern auch in der Provinz von einem aus mehreren Parteien und Gruppierungen getragenen ,,Linksblock" bestand. Auch unterschätzt Hildermeier die Bedeutung von Trockijs Parole ,,Weder Krieg noch Frieden", mit der dieser versuchte, das Odium eines Friedensdiktats der Mittelmächte in Brest-Litovsk zu verhindern. Dieser politische Kurs war nicht nur in der bolschewistischen Partei populär; er war auch in der Koalitionsregierung aus Bol'_eviki und Linken Sozialrevolutionären konsent (S. 58).
Frank Golczewski vertritt in seinem Beitrag ,,Die Ukraine und die Oktoberrevolution" die Auffassung, dass die von der in Kiev ansässigen Rada-Regierung abgegebene Unabhängigkeitserklärung zum Jahreswechsel 1917/18 nicht Ausfluss der eigenen politischen Vorstellungen gewesen sei. Sie sei vielmehr - wie er anhand der Texte der vier ,,Universale" zu belegen sucht - nur als eine Reaktion auf die bolschewistische Intervention zu werten. Es folgt eine konventionelle Präsentation der Ereignisse. Dabei ist allerdings die intellektuelle Redlichkeit des Verfassers zu würdigen, der eingangs darauf hinweist, dass er keine neuen Quellen präsentieren könne und somit auch nicht imstande sei, einen Beitrag zur wichtigen Erschließung der ukrainischen Regionalismen zu leisten (S. 136).
Gelungen sind die ausführlichen Betrachtungen Isabel de Keghels zur ,,Oktoberrevolution in der russischen Historiographie der Transformationszeit". Auf breiter Materialgrundlage analysiert sie sehr nuanciert die Ausdifferenzierung des russischen öffentlichen Diskurses über den einstigen Gründungsmythos der Sowjetunion. Überzeugend periodisiert sie die drei Phasen der Umwertung und analysiert ihre unterschiedlichen Trägergruppen. Schade ist, dass die Autorin darauf verzichtete, mit einen Rekurs auf Max Weber noch stärker die materiellen und ideellen Interessen zu untersuchen, die das Handeln der Akteure bestimmten. Was veranlasste den einen ehemaligen marxistischen Historiker, seine früheren Positionen zu revidieren, warum behielten andere sie bei? Wie ist es zu erklären, dass unkritisch und somit nahtlos an die Romanov-Dynastie angeknüpft wird, ohne dass deren autoritärer und antidemokratischer Gehalt die Entfaltung einer traditionsstiftenden Wirkung nachhaltig behindert? Hierzu müssen m. E. die Produktions- und Rezeptionsmodi historiographischer Literatur wesentlich stärker berücksichtigt werden. Auf dieser Grundlage ließe sich dann die Frage beantworten, inwieweit im gegenwärtigen Russland lediglich eine möglicherweise vorstrukturierte und marginalisierte Öffentlichkeit besteht. Auch diesen Überlegungen müsste nachgegangen werden; denn der Verweis auf wirtschaftliche Schwierigkeiten, um das Desinteresse eines großen Teils der Bevölkerung an der Aufarbeitung auch der eigenen Vergangenheit zu erklären, bleibt m. E. vordergründig.
So sehr der Beitrag de Keghels zu begrüßen ist, so enttäuschend ist letztlich der Gesamtertrag der Ringvorlesung. Nicht jeder gehaltene Vortrag ist es wert, gedruckt zu werden. Auch hätte die eine oder andere ehrenrührige polemische Formulierung (vgl. S. 156), die in einem Vortrag noch angemessen sein mag, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewährleisten, in der Drucklegung getilgt werden sollen. Als Fazit bleibt: Papier ist geduldig - die Leser auch?


Lutz Häfner, Bielefeld


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